„Fürchte dich nicht!“

Predigt am 21.02.16 / 28.02.16

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. (Jes. 43, 1-3)

„Fürchte dich nicht! – Fürchtet euch nicht!“ dieser Satz kommt in der Bibel immer wieder vor, in vielen verschiedenen Zusammenhängen. Ich habe eine kurze Bestandesaufnahme gemacht:

Im Alten Testament geht es häufig um die Furcht vor feindlichen Heeren in den vielen kriegerischen Auseinandersetzungen, in die das Volk Israel verwickelt war. Und die Feinde waren meistens militärisch überlegen. So heisst es im 2. Buch der Chronik: Fürchtet euch nicht und erschreckt nicht vor diesem großen Heerhaufen; denn nicht eure, sondern Gottes Sache ist der Krieg. (2. Chr. 20,15)

Des weiteren solle man sich auch nicht fürchten vor fremden Beamten, denen man unterstellt ist, und auch nicht vor einem fremden König – das war besonders wichtig in der Zeit, als das Volk Israel nach Babylonien deportiert worden war. Ebenso wenig fürchten soll man sich vor der Beschimpfung durch Menschen. Richter sollen sich nicht fürchten vor angesehenen Leuten, wenn sie ohne Ansehen der Person Recht sprechen. Man soll sich auch nicht fürchten vor fremden Göttern, die ja doch nur Götzenbilder aus Holz sind.

Mit dem Satz „Fürchte dich nicht“ spricht Gott den Menschen auch Mut zu, wenn sie vor grossen Herausforderungen stehen: z.B. Abraham vor dem Auszug aus seiner Heimat in eine unbekannte Zukunft, dem Volk Israel vor der Eroberung des Landes Kanaan, König Salomo vor dem Bau des Tempels. Die Aufforderung, sich nicht zu fürchten, steht auch oftmals bei der Berufung zum Propheten, wie z.B. bei Ezechiel: Du aber, Menschensohn, fürchte dich nicht vor ihnen, hab keine Angst vor ihren Worten! (Ez 2, 6)

Das Fürchte dich nicht steht auch oft im Zusammenhang mit der Verheissung einer besseren Zukunft, so auch bei der Rückkehr des Volkes aus der Babylonischen Gefangenschaft: Fürchte dich nicht, du, mein Knecht Jakob, spricht der Herr, verzage nicht, Israel! Denn ich bin es, der dich aus fernem Land errettet, /deine Kinder aus dem Land ihrer Gefangenschaft. Jakob wird heimkehren und Ruhe haben; /er wird in Sicherheit leben /und niemand wird ihn erschrecken. (Jer 46,28).

Mit dem Satz: Fürchte dich nicht werden auch häufig Erscheinungen Gottes oder von Engeln eingeleitet. Im Neuen Testament sagt ihn der Engel Gabriel zu Maria, als er ihr die Geburt Jesu verkündigt, ebenso die Engel zu den Hirten auf den Feldern Bethlehems. Schliesslich fällt dieser Satz auch am leeren Grab Jesu: Die Engel sagen es zu den Frauen, als sie nach Jesus suchen. Und schlussendlich sagt auch Jesus selber „Fürchtet euch nicht“, als er seinen Jüngerinnen und Jüngern als Auferstandener erscheint.

Wir sehen, die Aufforderung, sich nicht zu fürchten, zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch das Alte als auch durch das Neue Testament. Manchmal ist es eine Ermahnung, im Sinne von: „Du sollst dich nicht fürchten“, aber in den meisten Fällen ist es eine Ermutigung: „Du brauchst dich nicht zu fürchten“. Mit dem Satz „Fürchte dich nicht“ spricht Gott den Menschen Mut zu und weckt ihr Vertrauen in Gottes Kraft. Es ist eine Ermutigung in Not und Bedrängnis. Spricht Gott diesen Satz zu den Menschen, dann folgt häufig der Nachsatz: „…denn ich bin mit dir!“

„Fürchte dich nicht!“ – dieser Satz ist keineswegs veraltet. Er spricht auch zu uns. Gerade in heutiger Zeit haben wir es nötig, diesen Satz immer wieder zugesprochen zu bekommen. Denn Angst ist eine Erscheinung unserer Zeit. Und es gibt viele Gründe dafür.

Ein Blick in die Zeitung wirkt alles andere als beruhigend: Ich nenne nur Stichworte wie Klimaerwärmung, Flüchtlingskrise, Syrienkrieg, Terrorbedrohung, Frankenkrise, die Angst vor Arbeitslosigkeit und vor dem Verlust von Sicherheit und Wohlstand. Und für viele anstehende Probleme unserer Welt gibt es keine einfachen, schnellen Lösungen. Die Angst scheint also ein vorherrschendes Gefühl unserer Zeit zu sein.

Was genau ist eigentlich Angst? Der Begriff Angst stammt aus dem indogermanischen „angh“, lateinisch „angustus“ und bedeutet „eng“. Und wirklich, das Gefühl der Angst hat viel mit dem Gefühl der Enge zu tun. Wer Angst hat, fühlt eine Enge in der Brust, der Atem geht flach. Auch die Wahrnehmung verengt sich. In der Angst kreisen die Gedanken immer wieder um die befürchteten Dinge, man bekommt sozusagen einen Tunnelblick, bei dem alle andersartigen Gedanken ausgeblendet werden. Auf diese Art können ängstliche Gedanken zu einem Teufelskreis führen, in dem die Angst sich immer mehr verstärkt.

Doch viele Menschen gestehen sich Angst nicht gerne ein. Angst kann sich dann auch auf andere Art äussern, z.B. als Wut oder Aggression. Viele aggressive Menschen haben eigentlich Angst. Man hat Angst davor, in der Gesellschaft zu kurz zu kommen, Angst, seinen vielleicht bescheidenen Wohlstand zu verlieren. Diese Angst wird häufig projiziert auf das Fremde. Alles Fremde kann beängstigend sein, eben weil es fremd, andersartig, nicht vertraut ist. Angst vor dem Fremden ist also in Wirklichkeit Angst vor vielem anderen. Diese Angst mag nachvollziehbar sein. Es ist jedoch nicht eine Haltung, die weiterhilft und Probleme löst. Es ist eine Angst, die den Blick und das Denken verengt. Darum müssen wir darauf hinarbeiten, dass den Menschen ihre Angst genommen wird.

Doch leider wird Angst häufig auch noch geschürt. Viele Ängste werden den Menschen eingeredet. Sicher, wir müssen uns auch hier in der Schweiz vielen Problemen stellen, aber wir leben immer noch in einem der sichersten und wohlhabendsten Ländern dieser Welt. Demzufolge ist Angst ein schlechter Ratgeber. Sie darf uns nicht daran hindern, gemeinsam nach konstruktiven Lösungen für die anstehenden Probleme zu suchen.

„Fürchte dich nicht!“ – sagt Gott zu den Menschen. Ist das ein leichtfertiges Wegwischen von Angst und Problemen? – Auch wenn es gute Gründe gibt, manchmal Angst zu haben, ist das beste Rezept dagegen, sich seinen Ängsten zu stellen. Der Satz „Fürchte dich nicht!“ negiert nicht die Angst, macht sie nicht lächerlich, sondern nimmt sie ernst. Er will sagen: Auch wenn ihr Angst habt, gibt es einen Ausweg daraus. Der Gegensatz von Angst kann Mut sein. Im christlichen Kontext ist es auch Vertrauen. Vertrauen bedeutet, an etwas zu glauben, dass man nicht sieht. Vertrauen bedeutet, einer Situation einen Vorschuss zu geben, daran zu glauben, dass sie auch gut ausgehen kann. Vertrauen bedeutet ganz konkret, seine Ängste nicht zu verdrängen, sondern ihnen zu begegnen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Es kann auch bedeuten, sich zu fragen: Was kann ich ganz konkret tun, damit die befürchtete Situation nicht eintritt? Es bedeutet, sich nicht gefangen nehmen lassen vom verengenden Tunnelblick, sondern den Blick zu weiten und nach Lösungen zu suchen, die aus den angstbesetzten Szenarien herausführen. „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!“ sagt Gott in der Bibel immer wieder zu den Menschen. Für religiöse Menschen bedeutet also die Überwindung der Angst ein Vertrauen auf Gott. So können wir aus dem beengenden Angstgefühl ausbrechen und unseren Blick auf gute Lösungen richten.

Gott ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Gott ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? – So betet es ein frommer Mensch in Psalm 27. Auch wenn dieser Mensch sich in Gefahr befindet, so setzt er doch sein Vertrauen ganz auf Gott. Das können wir uns zum Vorbild nehmen. Wenn wir Gott als unser Licht und unser Heil betrachten, wenn wir Gott als die Kraft unseres Lebens annehmen können, dann sollte eigentlich keine Gefahr uns noch schrecken können.

Auch wenn vieles im Leben bedrohlich sein mag – geben wir der Angst keine Chance. Begegnen wir unseren Ängsten und vertrauen wir auf den behütenden Gott, der uns begleitet in allen Bedrohungen. Nur so können wir an den Herausforderungen unserer Zeit arbeiten und den wirklich bedrohlichen Situationen Herr werden.

 

Von der Vergebung

Predigt am 10.01.16

Lesung: Lk 19, 1 – 10

1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch.
2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.
3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt.
4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.
5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.
6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.a
8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.a
9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn aauch er ist Abrahams Sohn.
10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Predigttext: Mt. 18, 21 – 35

Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.a
23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig.
25 Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und aseine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen.
26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen.
27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch.
28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen.
30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte.
32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, aweil du mich gebeten hast;
33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?a
34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, abis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.

Petrus möchte wissen, wie oft er seinem Bruder, d.h. also seinem Mitmenschen vergeben soll. Die Antwort, die Jesus ihm gibt, mutet an wie eine Rechenaufgabe: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Das wird verständlich, wenn man die Zahlensymbolik kennt, die dahintersteckt: Die Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Wenn also z.B. im Buch Genesis erzählt wird, Gott habe die Welt in sieben Tagen erschaffen, dann wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott mit seiner Schöpfung ein vollkommenes Werk erschaffen hat.

Wenn jemand also bereit ist, so wie Petrus vorschlägt, seinem Bruder siebenmal zu vergeben, so ist das schon eine grosse Leistung. Doch Jesus überbietet das mit seiner Antwort: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal soll man jemandem verzeihen, der einem ein Unrecht angetan hat. Und damit ist eben nicht, wie in einer Rechenaufgabe, die Zahl 490 gemeint, sondern siebzigmal siebenmal heisst in der Zahlensymbolik so viel wie: unendlich oft. Man soll also seinem Nächsten unendliche Male vergeben, man soll mit der Vergebung niemals aufhören, so oft einem das Unrecht auch angetan wird.

Es ist also wirklich ein sehr hoher Anspruch, den Jesus da stellt. Aber er stellt ihn nicht ohne Grund.

Um das zu verdeutlichen, erzählt Jesus ein Gleichnis. Hier geht es um zwei Menschen, die finanzielle Schulden haben, der eine schuldet dem König 10 000 Zentner Silber. Das ist eine fast unermesslich hohe Summe. Auf Bitten und Drängen des Schuldners lässt der König Gnade walten. Er verzichtet darauf, ihn und seine Familie in die Schuldsklaverei zu verkaufen, wie das damals durchaus üblich war, und erlässt ihm den gesamten Betrag.

Von seinen Schulden befreit und einem schrecklichen Schicksal bewahrt, scheut sich aber dieser Knecht nicht davor, wiederum von einem anderen Knecht die Schulden einzutreiben. Dieser schuldet ihm 100 Silbergroschen, das ist ein vergleichsweise kleiner Betrag. Auch dieser Schuldner bittet um Gnade. Doch der Knecht ist gnadenlos und lässt seinen Mitknecht ohne Wenn und Aber ins Gefängnis werfen.

Obwohl also dem ersten Knecht grosse Gnade widerfahren ist, verleitet ihn das keineswegs dazu, selber gnädig zu sein.

Diese Geschichte erzählt nicht irgendjemand, sondern eben gerade Jesus, und darum wird schnell klar: Mit dem König im Gleichnis ist niemand anderes gemeint als Gott. Gott selber ist es, der gnädig ist, der Schulden vergibt – und damit sind natürlich keine finanziellen Schulden gemeint, sondern die Schuld an sich, also die Sünde.

Gott ist es also, der Schuld vergibt, und sei sie noch so gross. Hier kommt die ganze Gnade, Barmherzigkeit und Grosszügigkeit Gottes zum Ausdruck, die Jesus den Menschen versucht zu vermitteln. Das ist der eigentliche Kern seiner Botschaft, das ist das Evangelium.

Was die unendliche Vergebung betrifft, erinnert uns Jesus in seinem Gleichnis daran, dass Gott selber diesen hohen Anspruch bereits eingelöst hat. Gott ist uns mit seiner Gnade zuvorgekommen. Gott hat uns zuerst geliebt. Gott hat uns bereits vergeben, ohne dass wir dazu eine Vorleistung hätten erbringen müssen. Wir haben es in der Geschichte des Zöllners Zachäus gesehen: So wie Jesus Zachäus trotz seiner Sünden annimmt, nimmt Gott den Sünder an, so wie er ist, bedingungslos. Er rechnet dem Menschen die Sünde nicht an, auch wenn Gott mit der sündigen Tat selber nicht einverstanden ist. Jesus hat für Zachäus die Vorleistung erbracht, ihn trotz seiner Untaten anzunehmen. Diese neue Erfahrung des unbedingten Angenommenseins eröffnet Zachäus erst die Möglichkeit, seine Taten zu bereuen und von nun an ein besseres Leben anzustreben.

Was für Zachäus gilt, gilt für uns alle. Der Zöllner ist in der Bibel der Prototyp des sündigen Menschen. Doch wir dürfen nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Wir alle sind Sünder, wir alle sind Menschen mit Fehlern, ganz einfach, weil wir Menschen sind; und weil wir Fehler haben, machen wir auch Fehler, immer wieder im Leben. Es gibt Fehler, die sind weniger tragisch, aber es gibt auch Fehler, die weitreichende Konsequenzen haben, für uns und für andere. Und weil wir in einer gebrochenen Existenz leben, haben wir auch immer wieder die Vergebung nötig. Jesus spricht uns diese Vergebung durch Gott zu. Das gibt uns die Freiheit, immer wieder neu anzufangen, auch wenn wir Fehler gemacht haben, versagt haben, gescheitert sind oder auch anderen Leid zugefügt haben. Diese grundsätzliche Vergebung durch Gott lässt uns trotz unserer Fehler und Schwächen als würdige Menschen erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Erst das gibt uns die Chance, unsere Fehler zu bereuen und wenn möglich auch wieder gut zu machen.

Die Botschaft des Evangeliums ist: Gott hat uns zuerst geliebt. Diese Liebe müssen wir uns nicht verdienen, sie ist einfach schon da, wie ein Geschenk, das uns aus purer Grosszügigkeit gemacht worden ist. Gott nimmt uns an, so wie wir sind, mitsamt unseren Fehlern, Schwächen, Widersprüchlichkeiten und Gebrochenheiten. Wenn wir das verstanden haben, können wir uns als von Gott geliebte Menschen begreifen. Das und nichts anderes bedeutet Glaube.

Und das hat Folgen. Wenn wir uns von Gott bedingungslos angenommen fühlen, dann können wir uns auch selber annehmen. Denn unsere grössten Kritiker sind ja meistens wir selbst. Wir sind oftmals gut darin, anderen vorzubluffen, wie gut, fehlerfrei und leistungsfähig wir sind. In unserer Gesellschaft mussten wir das lernen. Wer nach oben kommen und Erfolg haben will, darf sich keine Blösse geben. Fehler und Schwächen zuzugeben kommt manchmal fast einem sozialen Selbstmord gleich, besonders auf der Karriereleiter. Doch wenn wir alleine in den Spiegel schauen, sehen wir auch unsere Fehler und Unzulänglichkeiten. Wenn wir uns aber selber annehmen, dann können wir auch zu unseren eigenen Fehlern und Schwächen stehen – und uns trotzdem dabei selber lieben.

Und es gibt noch eine zweite Konsequenz: Wenn wir uns von Gott geliebt fühlen und uns selber annehmen können, dann können wir auch unsere Mitmenschen genauso annehmen und lieben wie Gott uns.

Wenn Gott uns unsere Schuld vergibt, sollen wir auch unseren Mitmenschen vergeben. Die Gnade und Grosszügigkeit, die wir selber erfahren, sollen wir weitergeben in unserem sozialen Miteinander. Daher kommt also die Forderung, 7 mal 70 mal, also unendlich oft zu vergeben.

Doch wie soll das gehen? Geht es hier um eine „Schwamm drüber“-Mentalität? Soll alles Unrecht ungesühnt bleiben? Auch z.B. bei kriminellen Handlungen? Es ist ja auch wichtig, dass Unrecht gesühnt wird. Dafür sorgt unser Rechtsstaat. Das geschieht vor allem auch zugunsten der Opfer. Wenn man Opfer eines Verbrechens geworden ist, muss man das Gefühl haben können, dass einem Gerechtigkeit widerfährt. Dazu gehört die Verfolgung und Bestrafung der Täter. Aber genauso wichtig ist es, dem Täter, wenn er seine Strafe verbüsst hat, auch wieder eine Chance zu geben, sich zu verändern, sein Leben weiterzuführen und neu zu ordnen. Und dann ist der Weg der Vergebung wichtig. Und zwar für beide Seiten. Auch für das Opfer kann es sehr befreiend wirken, vergeben zu können, auch mal sagen zu können: Jetzt kann ich es gut sein lassen. Wer hingegen nie vergeben kann, wird mit der Zeit verbittern. Wenn Schuld endlos aufgerechnet und erlittenes Unrecht unbedingt heimgezahlt werden muss, zieht das neues Unrecht nach sich. Dann kann ein ewiger Teufelskreis entstehen von jahrelangen Fehden, die sogar über Generationen hinweg anhalten können. Auf diese Art sind schon viele Kriege entstanden. „Auge um Auge führt dazu, dass die ganze Welt erblindet“ – so brachte es Mahatma Gandhi auf den Punkt.

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. So beten Christen auf der ganzen Welt regelmässig im Unservater. Es ist ein zentraler Gedanke in unserem Glauben: die Liebe und Annahme, die wir durch Gott erfahren, können wir weitergeben an unsere Mitmenschen. So können wir uns der Liebe durch Gott würdig erweisen und einen wichtigen Beitrag leisten für ein friedliches Zusammenleben der Menschen bei uns und in der Welt.

 

 

Zwischen den Jahren

Predigt am 31.12.15/01.01.16

10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und adu sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.   (Gen. 28,10 – 15)

 

“Zwischen den Jahren“ – so nennt man diese Tage auch, in denen wir jetzt gerade leben.

In früheren Zeiten gab man den Tagen zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar eine besondere Bedeutung und nannte sie auch die „Zwölfnächte“, denn genau so viele Nächte sind es zwischen diesen beiden Daten; Silvester und Neujahr liegen genau in der Mitte. Der Ursprung dieser Zählung liegt im Unterschied zwischen dem Sonnenkalender und dem Mondkalender begründet. Zählt man, so wie früher, die Tage des Jahres nach den Mondphasen, so fehlen gegenüber unserem gewohnten 365 Tagen genau diese 11 Tage bzw. 12 Nächte. So betrachtete man früher diese Zeit auch als „Tage ausserhalb der Zeit“, als eine Art zeitliches Niemandsland.

Im alten Volksglauben spielten diese Tage und vor allem die Nächte eine besondere Rolle.

Man nannte sie auch die Rauhnächte. Woher das Wort kommt, ist umstritten. Vielleicht kommt es von Rauch, weil Häuser und Ställe in dieser Zeit mit Kräutern oder Weihrauch ausgeräuchert wurden, um böse Geister zu vertreiben. Oder es kommt vom Begriff rau. Man glaubte, es trieben sich raue Gestalten herum, z.B. mit Fell bekleidete Dämonen, die nachts ihr Unwesen treiben. Zur Mitte der Rauhnächte, also zu Silvester, soll die Wilde Jagd aufbrechen. In dieser Zeit stehe das Geisterreich offen und die Seelen der Verstorbenen sowie die Geister haben Ausgang, so glaubte man. Noch viele andere Geschichten und mancher Aberglaube ranken sich um die Rauhnächte. Lange Zeit hat man es in diesen Tagen vermieden, Wäsche zu waschen, damit sich die Geister nicht in der Leine verfangen und man sie dann nicht mehr los wird.

Auch heute noch haben sich Überbleibsel abergläubischer Bräuche um den Jahreswechsel erhalten, wie z.B. das Bleigiessen, um die Zukunft vorherzusehen. Auch Horoskope haben zu dieser Zeit wieder Hochkonjunktur. Man sagt auch heute noch, in diesen Nächten haben viele Menschen besonders intensive Träume.

Wie dem auch sei – auch für rational denkende Menschen stellen diese Tage eine Art Übergangszeit dar. Auch ohne in Aberglauben zu verfallen, kann man diese Zeit als eine Art Zwischenzeit betrachten, eine Zeit, in der die Zeit etwas anders läuft als sonst.

Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei, die Verwandten abgereist, die letzten Besuche sind gemacht worden. An den Feiertagen kommen oftmals Familienangehörige zusammen, die sich sonst fast das ganze Jahr über nicht sehen. Es können Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen zutage treten. Aber auch wenn alles gut ist, können die Weihnachtstage auch eine emotionale Belastung sein. Weihnachten ist ein sehr gefühlsbetontes Fest, im Guten wie im Schlechten. Die Emotionen des Festes mit all seiner Symbolik, das Schenken und beschenkt werden, die Familienzusammenkünfte und oftmals auch die Erinnerungen, die mit diesem Fest verbunden sind, sind für viele Menschen auch emotional anstrengend oder können gar aufwühlend sein.

Wenn das alles vorbei ist, hat man meist ein Bedürfnis nach Ruhe. Mit Silvester und Neujahr stehen weitere Feierlichkeiten an. Bis Anfang Januar wieder der Alltag losgeht, sind noch ein paar Tage Zeit. Die Zeit zwischen den Jahren eben.

Viele Menschen nutzen diese Tage als eine Art innere Reinigungszeit. Es ist eine Zeit zum Innehalten. Man wird nachdenklich, zieht Bilanz über das vergehende Jahr und hält Ausblick auf das kommende. Viele Menschen achten in dieser Zeit auch besonders auf ihre Träume. Das muss nicht Aberglaube oder Esoterik bedeuten. Träume als Sprache der Seele sind ein guter Indikator dafür, was den Menschen im Innersten beschäftigt. Indem sie unser inneres, unterbewusstes Wissen anzapfen, sind sie ein Mittel der Verarbeitung von Erlebnissen und können uns auch etwas darüber sagen, was wir für die Zukunft unbewusst wünschen, hoffen oder befürchten.

In der Bibel wurden Träume als Sprache Gottes verstanden. Gott spricht in Träumen zu den Menschen, warnt sie vor Gefahren und gibt ihnen oftmals auch Anweisungen. Manchmal gibt Gott den Menschen im Traum aber auch wunderschöne Verheissungen über ihre Zukunft, wie z.B. an Jakob, der im Text unserer Lesung eine Himmelsleiter schaut. Mehr dazu später.

Aber auch wenn man mit Träumen nicht viel anfangen kann, lohnt es sich, in diesen Tagen über sich und sein Leben nachzudenken, Rückschau zu halten und das kommende Jahr gedanklich vorwegzunehmen.

Beim Rückblick auf das vergangene Jahr können folgende Fragen leitend sein:

Was durfte ich in diesem Jahr Schönes erleben? Welche schönen und intensiven Tage, Zeiten und Ereignisse sind besonders in meinem Gedächtnis haften geblieben? Wann habe ich das Leben ganz besonders geniessen dürfen? Habe ich neue Erfahrungen gemacht, die mir neue Perspektiven gezeigt haben? Was durfte ich lernen? Wo habe ich mich persönlich weiterentwickelt? Welche Menschen sind in diesem Jahr für mich wichtig gewesen? Und: Welche schwere Zeiten musste ich durchleben, was habe ich an Schwierigem erlebt, was ist mir zugestossen? Wie bin ich damit umgegangen? Wie konnte ich es bewältigen? Kann ich im Nachhinein auch im Schweren einen Sinn finden? Konnte oder kann ich aufhören, mit dem Unausweichlichen zu hadern? Kann ich auch das Unschöne, Traurige und Schwierige im Leben akzeptieren?

Wenn es um die Vorschau auf das neue Jahr geht, können wir uns diese Fragen stellen:

Was erwarte ich vom neuen Jahr? Was hoffe ich? Welche Daten und Ereignisse stehen schon fest? Was ist noch offen? Worauf freue ich mich? Wie kann ich meine Zeit gestalten, damit sie schön und erfüllend wird? Wie kann ich Beziehungen zu anderen Menschen intensivieren? Wie kann ich besonders gut zu mir selber schauen, damit es mir auch in anstrengenden Zeiten gut geht? Mit welchen Gewohnheiten und Ritualen kann ich meinen Alltag erleichtern und verschönern? Was möchte ich Neues in mein Leben bringen? Was möchte ich lernen? Wie kann ich mich persönlich weiterentwickeln? Wie kann ich Sinn, Tiefe und Erfüllung finden?

Aber auch: Was befürchte ich? Wovor habe ich Angst? Welche grossen Aufgaben und Herausforderungen warten auf mich? Wie kann ich sie am besten bewältigen? Wer kann mir dabei helfen? Bin ich auch gerüstet für das Unvorhersehbare? Was kann mir auch in schweren Zeiten Trost, Kraft und Hoffnung geben?

Und schliesslich stellt sich sowohl bei der Rückschau als auch bei der Vorschau die Frage: Welche Rolle spielt Gott dabei? In der vergangenen Zeit wie auch in der Zeit, die noch kommen wird? Habe ich Gottes Begleitung und Beistand im letzten Jahr wahrnehmen können? Wofür empfinde ich Dankbarkeit? Wie will ich Gott in mein Leben einbeziehen, um das Schöne wie auch das Schwere aus Gottes Hand nehmen zu können?

Vielleicht finden Sie in der nächsten Zeit ruhige Stunden, um sich mit solchen Fragen zu beschäftigen.

Auf dem Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet sich auch Jakob, als er seinen Traum von der Himmelsleiter träumt. Jakob ist unterwegs, er ist auf der Flucht, seine Zukunft ist ungewiss und ihm stehen grosse Herausforderungen bevor. In dieser Situation lässt Gott ihn dieses wunderschöne Bild schauen: Eine Leiter führt von ihm aus direkt in den Himmel. Engel steigen darauf auf und ab. Gott steht zuoberst und gibt Jakob eine Verheissung für seine Zukunft.

Und dabei sagt Gott etwas ganz Wichtiges: „Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“

Gottes Beistand auf unserer Lebensreise, in guten wie in schlechten Zeiten: Ich wünsche Ihnen, dass Sie dies in ihrem Leben erkennen können, sowohl in der Rückschau auf das vergangene Jahr als auch im Vorausblick auf das Kommende.

Mögen wir in allem, was uns begegnet, die Verbindung zum Himmel und Gottes Begleitung erfahren können, das ist mein Wunsch für uns alle in diesem neuen Jahr.