Predigt am 10.01.16
Lesung: Lk 19, 1 – 10
1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch.
2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.
3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt.
4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.
5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.
6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.a
8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.a
9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn aauch er ist Abrahams Sohn.
10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Predigttext: Mt. 18, 21 – 35
Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.a
23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig.
25 Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und aseine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen.
26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen.
27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch.
28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen.
30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte.
32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, aweil du mich gebeten hast;
33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?a
34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, abis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.
Petrus möchte wissen, wie oft er seinem Bruder, d.h. also seinem Mitmenschen vergeben soll. Die Antwort, die Jesus ihm gibt, mutet an wie eine Rechenaufgabe: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Das wird verständlich, wenn man die Zahlensymbolik kennt, die dahintersteckt: Die Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Wenn also z.B. im Buch Genesis erzählt wird, Gott habe die Welt in sieben Tagen erschaffen, dann wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott mit seiner Schöpfung ein vollkommenes Werk erschaffen hat.
Wenn jemand also bereit ist, so wie Petrus vorschlägt, seinem Bruder siebenmal zu vergeben, so ist das schon eine grosse Leistung. Doch Jesus überbietet das mit seiner Antwort: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal soll man jemandem verzeihen, der einem ein Unrecht angetan hat. Und damit ist eben nicht, wie in einer Rechenaufgabe, die Zahl 490 gemeint, sondern siebzigmal siebenmal heisst in der Zahlensymbolik so viel wie: unendlich oft. Man soll also seinem Nächsten unendliche Male vergeben, man soll mit der Vergebung niemals aufhören, so oft einem das Unrecht auch angetan wird.
Es ist also wirklich ein sehr hoher Anspruch, den Jesus da stellt. Aber er stellt ihn nicht ohne Grund.
Um das zu verdeutlichen, erzählt Jesus ein Gleichnis. Hier geht es um zwei Menschen, die finanzielle Schulden haben, der eine schuldet dem König 10 000 Zentner Silber. Das ist eine fast unermesslich hohe Summe. Auf Bitten und Drängen des Schuldners lässt der König Gnade walten. Er verzichtet darauf, ihn und seine Familie in die Schuldsklaverei zu verkaufen, wie das damals durchaus üblich war, und erlässt ihm den gesamten Betrag.
Von seinen Schulden befreit und einem schrecklichen Schicksal bewahrt, scheut sich aber dieser Knecht nicht davor, wiederum von einem anderen Knecht die Schulden einzutreiben. Dieser schuldet ihm 100 Silbergroschen, das ist ein vergleichsweise kleiner Betrag. Auch dieser Schuldner bittet um Gnade. Doch der Knecht ist gnadenlos und lässt seinen Mitknecht ohne Wenn und Aber ins Gefängnis werfen.
Obwohl also dem ersten Knecht grosse Gnade widerfahren ist, verleitet ihn das keineswegs dazu, selber gnädig zu sein.
Diese Geschichte erzählt nicht irgendjemand, sondern eben gerade Jesus, und darum wird schnell klar: Mit dem König im Gleichnis ist niemand anderes gemeint als Gott. Gott selber ist es, der gnädig ist, der Schulden vergibt – und damit sind natürlich keine finanziellen Schulden gemeint, sondern die Schuld an sich, also die Sünde.
Gott ist es also, der Schuld vergibt, und sei sie noch so gross. Hier kommt die ganze Gnade, Barmherzigkeit und Grosszügigkeit Gottes zum Ausdruck, die Jesus den Menschen versucht zu vermitteln. Das ist der eigentliche Kern seiner Botschaft, das ist das Evangelium.
Was die unendliche Vergebung betrifft, erinnert uns Jesus in seinem Gleichnis daran, dass Gott selber diesen hohen Anspruch bereits eingelöst hat. Gott ist uns mit seiner Gnade zuvorgekommen. Gott hat uns zuerst geliebt. Gott hat uns bereits vergeben, ohne dass wir dazu eine Vorleistung hätten erbringen müssen. Wir haben es in der Geschichte des Zöllners Zachäus gesehen: So wie Jesus Zachäus trotz seiner Sünden annimmt, nimmt Gott den Sünder an, so wie er ist, bedingungslos. Er rechnet dem Menschen die Sünde nicht an, auch wenn Gott mit der sündigen Tat selber nicht einverstanden ist. Jesus hat für Zachäus die Vorleistung erbracht, ihn trotz seiner Untaten anzunehmen. Diese neue Erfahrung des unbedingten Angenommenseins eröffnet Zachäus erst die Möglichkeit, seine Taten zu bereuen und von nun an ein besseres Leben anzustreben.
Was für Zachäus gilt, gilt für uns alle. Der Zöllner ist in der Bibel der Prototyp des sündigen Menschen. Doch wir dürfen nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Wir alle sind Sünder, wir alle sind Menschen mit Fehlern, ganz einfach, weil wir Menschen sind; und weil wir Fehler haben, machen wir auch Fehler, immer wieder im Leben. Es gibt Fehler, die sind weniger tragisch, aber es gibt auch Fehler, die weitreichende Konsequenzen haben, für uns und für andere. Und weil wir in einer gebrochenen Existenz leben, haben wir auch immer wieder die Vergebung nötig. Jesus spricht uns diese Vergebung durch Gott zu. Das gibt uns die Freiheit, immer wieder neu anzufangen, auch wenn wir Fehler gemacht haben, versagt haben, gescheitert sind oder auch anderen Leid zugefügt haben. Diese grundsätzliche Vergebung durch Gott lässt uns trotz unserer Fehler und Schwächen als würdige Menschen erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Erst das gibt uns die Chance, unsere Fehler zu bereuen und wenn möglich auch wieder gut zu machen.
Die Botschaft des Evangeliums ist: Gott hat uns zuerst geliebt. Diese Liebe müssen wir uns nicht verdienen, sie ist einfach schon da, wie ein Geschenk, das uns aus purer Grosszügigkeit gemacht worden ist. Gott nimmt uns an, so wie wir sind, mitsamt unseren Fehlern, Schwächen, Widersprüchlichkeiten und Gebrochenheiten. Wenn wir das verstanden haben, können wir uns als von Gott geliebte Menschen begreifen. Das und nichts anderes bedeutet Glaube.
Und das hat Folgen. Wenn wir uns von Gott bedingungslos angenommen fühlen, dann können wir uns auch selber annehmen. Denn unsere grössten Kritiker sind ja meistens wir selbst. Wir sind oftmals gut darin, anderen vorzubluffen, wie gut, fehlerfrei und leistungsfähig wir sind. In unserer Gesellschaft mussten wir das lernen. Wer nach oben kommen und Erfolg haben will, darf sich keine Blösse geben. Fehler und Schwächen zuzugeben kommt manchmal fast einem sozialen Selbstmord gleich, besonders auf der Karriereleiter. Doch wenn wir alleine in den Spiegel schauen, sehen wir auch unsere Fehler und Unzulänglichkeiten. Wenn wir uns aber selber annehmen, dann können wir auch zu unseren eigenen Fehlern und Schwächen stehen – und uns trotzdem dabei selber lieben.
Und es gibt noch eine zweite Konsequenz: Wenn wir uns von Gott geliebt fühlen und uns selber annehmen können, dann können wir auch unsere Mitmenschen genauso annehmen und lieben wie Gott uns.
Wenn Gott uns unsere Schuld vergibt, sollen wir auch unseren Mitmenschen vergeben. Die Gnade und Grosszügigkeit, die wir selber erfahren, sollen wir weitergeben in unserem sozialen Miteinander. Daher kommt also die Forderung, 7 mal 70 mal, also unendlich oft zu vergeben.
Doch wie soll das gehen? Geht es hier um eine „Schwamm drüber“-Mentalität? Soll alles Unrecht ungesühnt bleiben? Auch z.B. bei kriminellen Handlungen? Es ist ja auch wichtig, dass Unrecht gesühnt wird. Dafür sorgt unser Rechtsstaat. Das geschieht vor allem auch zugunsten der Opfer. Wenn man Opfer eines Verbrechens geworden ist, muss man das Gefühl haben können, dass einem Gerechtigkeit widerfährt. Dazu gehört die Verfolgung und Bestrafung der Täter. Aber genauso wichtig ist es, dem Täter, wenn er seine Strafe verbüsst hat, auch wieder eine Chance zu geben, sich zu verändern, sein Leben weiterzuführen und neu zu ordnen. Und dann ist der Weg der Vergebung wichtig. Und zwar für beide Seiten. Auch für das Opfer kann es sehr befreiend wirken, vergeben zu können, auch mal sagen zu können: Jetzt kann ich es gut sein lassen. Wer hingegen nie vergeben kann, wird mit der Zeit verbittern. Wenn Schuld endlos aufgerechnet und erlittenes Unrecht unbedingt heimgezahlt werden muss, zieht das neues Unrecht nach sich. Dann kann ein ewiger Teufelskreis entstehen von jahrelangen Fehden, die sogar über Generationen hinweg anhalten können. Auf diese Art sind schon viele Kriege entstanden. „Auge um Auge führt dazu, dass die ganze Welt erblindet“ – so brachte es Mahatma Gandhi auf den Punkt.
„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. So beten Christen auf der ganzen Welt regelmässig im Unservater. Es ist ein zentraler Gedanke in unserem Glauben: die Liebe und Annahme, die wir durch Gott erfahren, können wir weitergeben an unsere Mitmenschen. So können wir uns der Liebe durch Gott würdig erweisen und einen wichtigen Beitrag leisten für ein friedliches Zusammenleben der Menschen bei uns und in der Welt.