Wer ist dieser?

Predigt am 19.02.17/12.03.17

Und es begab sich, als Jesus allein war und betete und nur seine Jünger bei ihm waren, da fragte er sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; einige aber, du seist Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes! Er aber gebot ihnen, dass sie das niemandem sagen sollten.  (Lk. 9, 18 – 21)

„Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“, fragt Jesus seine Jünger. – Für wen halten mich die Leute? – Was glauben die Leute, wer ich bin?

Jesus weiss, dass viel über ihn geredet wird, und zwar nicht nur darüber, was er tut, sondern vor allem auch darüber, wer er wohl sei.

Denn Jesus gibt Rätsel auf. Die Leute haben schon gemerkt, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist. Seine Worte berühren die Menschen, wühlen sie auf, scheiden auch oftmals die Geister. Seine Taten zeugen von einer besonderen Vollmacht. Er vollbringt Wunder, er kann Kranke heilen,vermehrt Speisen, stillt den Sturmwind, weckt sogar Tote auf. Er masst sich an, Sünden zu vergeben, bricht mit Tabus, indem er sich mit Sündern an einen Tisch setzt, kritisiert religiöse Autoritätspersonen, und scheut sich nicht, auch das Sabbatgebot zu brechen. Er kann sich liebevoll den Menschen zuwenden, aber auch wütend werden und harte Worte gebrauchen. Und er scheint eine ganz besondere Beziehung zu Gott zu haben, nennt ihn liebevoll „Abba“, also Papa.

Es ist allen klar: Jesus ist kein Mensch wie alle anderen. Aber wer ist er? So werden sich wohl viele Leute damals gefragt haben, die Jesus begegnet sind oder auch nur von ihm gehört haben. Die Evangelien bezeugen uns, dass die Menschen oft zueinander gesagt haben: Wer ist dieser, dass er Kranke heilen kann? Dass er Sündern vergibt? Dass sogar Wind und Sturm ihm gehorchen? Nach jedem Wunder, das die Menschen miterleben, taucht diese Frage auf, sie scheint förmlich über den Köpfen zu schweben: Wer ist dieser? Was ist das für ein Mensch? Jesus scheint in kein Schema zu passen, kein Deutungsversuch vermag das Phänomen Jesus von Nazareth abschliessend und befriedigend zu erklären.

So behelfen sich die Leute mit Figuren aus der Vergangenheit. Es war damals ein verbreiteter Glaube, dass besondere Personen, wie z.B. Propheten, eines Tages wiederkommen und in allenfalls anderer Gestalt ihr Werk fortsetzen würden. So wartete man auf ein Wiedererscheinen des berühmten Propheten Elia oder auf einen der anderen Propheten. Ein Erklärungsversuch der Leute ist es also, zu sagen, Jesus sei der wiedererschienene Elia, Johannes der Täufer oder ein anderer Prophet aus der Vergangenheit. Doch man merkt, dass diese Vermutungen nicht ganz greifen, dass Jesus eben doch grösser und anders ist als die bekannten Figuren. Jesus bringt Neues in die Welt, noch nie Dagewesenes. Die Vergleiche mit früheren Personen sind eher hilflose Versuche, die Person Jesus zu erklären.

In den Evangelien kursieren viele Titel, mit denen Jesus belegt wird. Sich selber nennt Jesus an einigen Stellen den „Menschensohn“, dies ist ein Begriff aus dem Alten Testament, und die Bedeutung dieses Titels liegt bis heute im Dunkeln. Oftmals wird Jesus auch als König bezeichnet und im gleichen Atemzug als „Sohn Davids“, wie z.B. bei seinem Einzug in Jerusalem.

Nur an einem Ort fragt man sich nicht, wer Jesus sei: Nämlich dort, wo man ihn bereits kennt, in Nazareth, seiner Heimatstadt. Hier meint man zu wissen, wer Jesus ist: Das ist doch der Sohn vom Zimmermann Josef, der unter uns aufgewachsen ist, den haben wir doch als Kind schon gekannt! – Man kann in diesem bekannten Menschen nichts Besonderes entdecken. Es fehlt schlicht die Distanz, um in Jesus mehr zu sehen als den gewöhnlichen Menschen aus der Nachbarschaft. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, sagt Jesus dazu und kehrt seiner Heimatstadt den Rücken.

Doch sonst überall stellt sich immer wieder die Frage: Wer ist Jesus? Ein besonderer Prophet? Ein Wunderheiler? Die Wiedergeburt eines früheren Propheten? Oder gar ein Quacksalber oder ein Volksverführer?

Viel wird gerätselt und spekuliert, doch niemand findet eine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Jesus weiss das, und so fragt er selber seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich sei? Auch die Jünger können ihm nur die Vermutungen und Spekulationen der Leute wiedergeben. Und dann fragt Jesus sie selber: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Nun kommt die Antwort des Petrus: Du bist der Christus Gottes, d.h. der Gesalbte, auf Hebräisch: Der Messias. Petrus scheint es erfasst zu haben. Doch Jesus gebietet ihnen, nicht darüber zu sprechen. Warum das so ist, ist bis heute ein Rätsel. Vielleicht will sich Jesus nicht festlegen lassen. Vielleicht will er gerade, dass die Menschen rätseln und spekulieren; dass ihnen nicht eine fertige Antwort vorgesetzt wird, sondern dass sie selber, jeder für sich auf der Suche sein sollen nach einer Antwort auf die Frage: Wer ist Jesus?

Wer ist Jesus? – Das fragen sich viele Menschen auch heute noch. Und auch wenn wir sagen: Er ist der Christus, der Sohn Gottes, dann stellt sich immer noch die Frage: Was bedeutet das? Und vor allem: Wie können wir das heute verstehen?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus, das bedeutet, dass wir uns fragen sollen: Wer ist Jesus Christus für mich? Denn jenseits aller kursierenden Jesusbilder geht es darum, ein persönliches Verhältnis zu finden zu Jesus als die zentrale Figur des christlichen Glaubens.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich diese Frage zu beantworten.

Für die einen ist Jesus ein moralisches Vorbild. Sein Eintreten für die Armen und Schwachen, seine klaren Worte gegen Heuchelei und Ungerechtigkeiten sind beeindruckend. Seine Worte zugunsten von Feindesliebe, Frieden und Gewaltlosigkeit zielen auf ein friedliches und soziales Zusammenleben der Menschen. Seine Bereitschaft, für uns auch durch Leiden und Tod zu gehen ist vorbildlich. In der Nachfolge nehmen Christen seine Werte an, versuchen, in den Spuren Jesu zu wandeln und damit zu helfen, eine bessere Welt zu schaffen.

Für andere ist Jesus vor allem ein religiöser Erneuerer. Seine harten Worte gegen die Pharisäer, seine Tabubrüche und gezielten Gesetzesübertretungen dienen als Kritik auch heutiger allzu starrer religiöser Strukturen und motivieren dazu, die Kirche immer wieder zu reformieren und zu erneuern.

Für viele Christen ist Jesus wichtig in einer persönlichen Beziehung, wie zu einem Bruder oder Freund. Im regelmässigen Gebet und Gottesdienst pflegen sie eine Verbindung zu ihm; sie fühlen sich von Jesus durch ihren Alltag und ihr Leben begleitet, vertrauen ihm ihre Sorgen und Nöte an und fühlen sich von ihm persönlich angenommen auch in ihrer Sündhaftigkeit.

Für andere wiederum ist Jesus vor allem der Christus, der Erlöser und Heiland, der Auferstandene, der zur Rechten Gottes sitzt. Als Herr über die Lebenden und die Toten wird hier vor allem seine Göttlichkeit betont. Jesu Erlösungswerk durch seinen Tod und seine Auferstehung ist für diese Menschen Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens. Ihre Verehrung dient dem auferstandenen Christus; er dient ihnen als Quelle einer Hoffnung, die auch über den Tod hinausgeht.

Nicht wenige Menschen in heutiger Zeit hadern auch mit diesem Jesus. Einigen ist er zu abgehoben, zu undurchsichtig, zu unbegreiflich, zu weich, zu revolutionär, zu links, zu fremd, zu fern, zu moralisch, zu menschlich oder zu göttlich. An Jesus scheiden sich auch heute noch die Geister, und viele Menschen fragen genauso wie in biblischen Zeiten: Wer ist dieser? Was kann ich mit ihm anfangen, wie kann ich seine Worte und Handlungen verstehen, was soll ich von ihm halten, welchen Platz kann er in meinem Leben einnehmen, kann ich überhaupt an ihn glauben und wenn ja in welcher Weise?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus auch uns als getaufte Christinnen und Christen. Der möglichen Antworten gibt es viele, und sie werden sich im Laufe des Lebens verändern. Es ist eine Frage, mit der wir unser Leben lang unterwegs sein können; je nach Lebensabschnitt und Lebenssituation können wieder andere Antworten aktuell werden.

Doch schlussendlich lässt sich diese Frage nur von innen heraus beantworten, nicht als blosse, abgehobene Theorie, sondern für jeden Menschen ganz persönlich.

Wie auch immer unser persönliches Jesusbild sein mag, wichtig ist, dass wir darin etwas von Gott erkennen. „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“, so heisst es im Kolosserbrief*. In Jesus hat sich gezeigt, wie Gott ist. So ist unser Verhältnis zu Jesus gleichzeitig ein Verhältnis zu Gott. Das zu begreifen kann nur von innen geschehen.

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“ Jesus stellt auch uns diese Frage und lässt sie offen. Beantworten können nur wir sie selber.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit dieser Frage weiterhin auf dem Weg sind und immer wieder ihre eigenen persönlichen Antworten finden, und vor allem, dass Sie in ihrem Fragen nach Jesus schliesslich Gott finden mögen.

*Kol 2,9