Vom Wachstum

Predigt am 21.08.16, Gottesdienst auf dem Bauernhof. Zuvor wurden vier Kinder getauft.

Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Und er sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es ist wie ein Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so ist’s das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, sodass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können. (Mk. 4, 26 – 32)

Jesus verdeutlichte seine Botschaft gerne mit Gleichnissen. Diese sind oftmals spannende Texte mit reichem Gehalt. Oftmals handelt es sich um ganze Geschichten mit komplexen Handlungen; so geht es z.B. um Raubüberfälle, um Familienkonflikte oder sogar um das Handeln von Königen. 

In diesem Gleichnis hingegen wird ein ganz einfacher Vorgang aus der Natur beschrieben. Es geht um das Wachstum einer Pflanze. Ein Vorgang, der jedes Jahr im Frühling und im Sommer milliardenfach geschieht. Aus einem Samen wird ein Halm, eine Pflanze, eine Frucht, die schliesslich geerntet werden kann. 

Jedes Jahr können wir diesen Ablauf wieder täglich beobachten: Wie im Frühling die Knospen beginnen zu spriessen, wie die Halme aus der der Erde hervorkommen, wie es überall wächst und beginnt zu grünen und zu blühen. Der Rasen muss in immer kürzeren Abständen gemäht werden, und kaum ist das Unkraut gejätet, spriesst es wieder von Neuem hervor. Die Saat auf den Feldern wird immer höher und üppiger, bis die Getreidehalme im Wind wogen und die Maispflanzen neben den Feldwegen hohe Wände bilden. 

Was da geschieht, ist für uns eine Selbstverständlichkeit und doch eigentlich jedes Mal wieder ein Wunder. 

Es gibt einen Satz in dem Gleichnis, der dieses Wunder besonders gut beschreibt: „Er weiss nicht wie“. Der Bauer tut nichts anderes, als den Samen in die Erde zu setzen; der Rest geschieht von selber. Der Mensch begeht inzwischen seinen Tageslauf, und mit der Zeit wird aus dem Samen, den er gesät hat, eine Pflanze, die schliesslich Frucht bringt, die er ernten kann und von der er sich und seine Familie ernähren kann. 

Das ist ein für ihn lebenswichtiger Vorgang. Aber: Er weiss nicht, wie es geschieht. Es geschieht von alleine. Er selber setzt den Samen, er kann zuschauen, wie es wächst, und am Ende kann er ernten. Viel mehr kann er nicht dazu tun. Das Eigentliche geschieht ohne sein Zutun. Er weiss nicht wie. 

Es ist ein altes Gleichnis aus einer anderen Zeit als die Heutige. In heutiger Zeit begnügen wir uns nicht mehr damit, zu warten, wie etwas von selber geschieht. Heute wollen wir alles in unserem Leben selber planen, organisieren, kontrollieren, optimieren und gestalten. Wir wollen nichts dem Zufall überlassen! Unser Leben soll bis ins hinterletzte Detail hinein geplant und gesteuert werden. Wenn etwas nicht funktioniert, dann soll es zum Funktionieren gebracht werden. Und wir wollen alles verstehen. Wir wollen ganz genau wissen, wie und warum etwas funktioniert. So hat sich der Mensch mit der Zeit die Natur unterworfen. Seit der Zeit der Aufklärung herrscht die Haltung vor, alles und jedes sei machbar und manipulierbar. Wir geben uns nicht mehr damit zufrieden, geduldig zu warten, wie etwas entsteht. Wir wollen alles vorherbestimmen, anpacken, machen.

In der Landwirtschaft versucht man das Wachstum mit künstlichem Dünger zu optimieren, natürliche Risiken mit Pestiziden, Fungiziden und Herbiziden möglichst auszuschalten. Riesige Traktoren und Landmaschinen perfektionieren und optimieren die Arbeit. Tiere werden gezüchtet, damit sie viel Ertrag bringen. Auch in der Landwirtschaft wird also nichts mehr dem Zufall überlassen. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, denn die modernen Methoden haben auch dazu geführt, dass wir bei uns keine Hungersnöte mehr kennen und dass alle am Schluss genug auf dem Teller haben.

Und doch gibt es da einen Punkt, an dem alles Optimieren und Kontrollieren an Grenzen stösst. Dieses „Er weiss nicht wie“ ist trotz aller Technologie nicht ausgeschaltet. Auch jetzt noch ist schlussendlich alles davon abhängig, dass es von selber wächst. Dieses natürliche Wachstum kann durch keinen Fortschritt, keine Chemie und keine Technologie ersetzt werden. Auch wenn das Wachstum beeinflusst werden kann – ein kleines Stück Unverfügbarkeit, dieses „Er weiss nicht wie“ ist immer noch dabei. Die Natur, das Wachsen und Gedeihen ist nicht durch Menschenhand machbar. Wir haben es nicht im Griff, und das beste Beispiel dafür ist die Tatsache, dass auch bei uns dieses Jahr die Ernte um einige Prozentpunkte schlechter ausfallen wird als sonst. Der viele Regen im Frühling war nicht vermeidbar. Das Eigentliche also, das Wichtigste bei dem ganzen Vorgang haben wir Menschen nicht im Griff, es ist nicht steuer- oder manipulierbar. 

Wachstum ist immer ein langsamer Prozess. Wachstum geschieht meist gemächlich, schleichend, leise, unbemerkt und unerklärlich. Und es geschieht von selber. Wenn etwas wächst, ist das jedes Mal ein kleines Wunder. 

Wachstum geschieht nicht nur in der Landwirtschaft. Wachstum geschieht auch in vielen anderen Bereichen unseres Lebens.

Wir haben vorhin schon über die Geburt eines Kindes gesprochen. In der heutigen Zeit gibt es ja viele Möglichkeiten der Familienplanung bis hin zur künstlichen Befruchtung. Die meisten modernen Menschen möchten solche Möglichkeiten nicht mehr missen. Auch Schwangerschaft und Geburt werden nicht mehr gänzlich der Natur überlassen. Es gibt Möglichkeiten der menschlichen Eingriffe, um die Geburt zu erleichtern und Komplikationen zu verhindern, die bei uns selbstverständlich geworden sind. 

Aber das Eigentliche dieses Vorganges, das Werden eines Menschen ist und bleibt ein Vorgang der Natur. Auch hier gilt es: Wir wissen nicht wie. Ein Kind entsteht einfach, wir können diesen Vorgang mit unserem Zutun nur begleiten. Glücklicherweise gibt es noch keine Technologie, um Menschen selber herzustellen. Bestrebungen in dieser Richtung, wie z.B. das Klonen oder Eingriffe in menschliches Erbgut sind ethisch problematisch und müssen sorgfältig diskutiert werden. 

Wachstum geschieht also von selber und ist nur bedingt beeinflussbar. Ob ein Kind ein Junge oder ein Mädchen wird, ob eine Gurke gerade oder schief wächst, können wir kaum beeinflussen. Ob es regnet oder die Sonne scheint, ob es gewittert oder hagelt – auch das ist nicht von Menschenhand steuerbar. 

Ob etwas gelingt oder nicht und wie etwas herauskommt, hängt nicht nur von unserem Zutun ab. Wir können helfen, die Möglichkeiten zu schaffen, damit etwas wachsen kann. Wir können die Bedingungen begünstigen und Risiken minimieren. Wir können viel dazu tun, damit etwas gelingt. Aber das Wachstum selber liegt letztlich nicht in unserer Hand. 

Wenn wir das erkennen und respektieren, dann gewinnen wir eine Haltung der Demut. Das bedeutet, die eigenen Grenzen anzuerkennen, und zu akzeptieren, dass es etwas gibt, das Grösser ist als wir selber. Es bedeutet, eine Haltung der Geduld, des Vertrauens, des Respektes und nicht zuletzt der Hoffnung einzunehmen. Es bedeutet die Bereitschaft, etwas einfach geschehen zu lassen, und das, was gelingen soll, in Gottes Hand zu legen, es Gott anheim zu stellen im Vertrauen darauf, dass es gut kommt. Es bedeutet, etwas von unserem Machbarkeitsdenken aufzugeben und uns auf das zu besinnen, was wirklich unsere Aufgabe ist. 

Bei diesem Gleichnis geht es eigentlich nicht um Landwirtschaft. Es geht um das Reich Gottes, um die bessere Welt, die wir alle herbeisehnen. Es beschreibt unsere Rolle bei der Arbeit für dieses Reich. Wir spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die Hauptrolle.  

Das darf aber nicht bedeuten, dass wir die Hände in den Schoss legen und sagen: Wir können ja doch nichts machen. Wir können sehr viel und sehr Wichtiges tun. Wir können den Samen setzen, den Boden bereiten, die Bedingungen schaffen, damit etwas gelingt. Und wir können ernten und die Ernte gerecht verteilen. 

Wachstum gibt es in vielen Bereichen unseres Lebens. Ob es nun um ein Getreidefeld geht, um das Aufziehen von Kindern, um eine wirtschaftliche Investition, um ein Projekt, um das Zusammenleben von Menschen, um die Gestaltung der Zukunft, um Frieden, um Liebe – überall geht es um Wachstum, das nicht allein in unserer Hand liegt. Doch wenn wir alle daran mitarbeiten, wenn wir jedes für uns das dazutun, was wir haben und können, dann kann ein Vorhaben wachsen und zu etwas Grösserem werden. Wir alle können etwas dazu beitragen, dass aus einem kleinen Samen ein grosser Baum wird, in dem die Vögel nisten. 

Zum Thema Sünde

Predigt am 29.05.16

Röm. 6, 12 – 23

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Dieser Titel eines Liedes von Zarah Leander kommt wohl vielen Menschen in den Sinn, wenn es um den Begriff Sünde geht. Mir ging es jedenfalls so, als ich überlegte, wo der Begriff Sünde in unserer Alltagssprache überall verwendet wird.

Das Wort Sünde ist in aller Munde, auch in der heutigen säkularisierten Welt.

Da ist z.B. die Rede vom Verkehrssünder, dem Steuersünder oder dem Abfallsünder; man spricht von den Bausünden oder den Jugendsünden. Die Verwendung des Begriffes „Sünde“ drückt oftmals eine Verharmlosung aus. Die Jugendsünden z.B. sind kleine Dummheiten, Streiche oder Verfehlungen, die mit jugendlichem Leichtsinn oder Übermut entschuldigt werden können. Als Jugendsünden bezeichnet man aber auch Dinge, die man früher getan hat und mit denen man sich im reiferen Alter nicht mehr identifizieren kann. Abfallsünder sind Leute, die Abfall einfach liegen lassen, Steuersünder sind Leute, die Steuern hinterziehen, Verkehrssünder haben die Verkehrsregeln missachtet. Es sind meistens die kleinen Vergehen, die nach landläufiger Meinung jedem passieren können, für die man im Allgemeinen sogar Verständnis aufbringt. Wirklich kriminelle Handlungen werden nicht mehr als Sünde bezeichnet. Bei den Steuersündern stellt sich allerdings die Frage, ab welchem Betrag man eigentlich eher von Vergehen sprechen sollte als in verharmlosender Weise von „Sünden“.

Der Begriff Sünde kommt in unserem Alltagsleben aber auch häufig im Zusammenhang mit der Ernährung vor: Man hat gesündigt, weil man der Sahnetorte nicht widerstehen konnte, obwohl man doch eigentlich abnehmen will. Sünden sind im heutigen Sprachgebrauch häufig kleine Laster, von denen man eben nicht lassen kann.

Die Sünde hat sich also in unserer Alltagssprache gehalten, obwohl wir in einer weitgehend nicht-religiösen Gesellschaft leben. In der heutigen Zeit ist die Sünde also eher etwas, das man belächelt, anstatt dass man Angst oder Respekt vor diesem Begriff hat.

Im rein kirchlichen Kontext ist das anders. Hier versteht man unter Sünde ein Vergehen, ein Fehlverhalten, eine moralisch verwerfliche Tat, eine Übertretung von Gottes Geboten.

Als Moses die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste führte, gab er ihnen die 10 Gebote, um diesen losen Haufen von Menschen zu einem Volk mit verbindlichen Regeln zu vereinen. Ein Übertreten der Regeln störte das Zusammenleben des Volkes, was zu einer Gefährdung der ganzen Gemeinschaft führen konnte. Daher war es besonders wichtig, dass die Regeln und Gebote eingehalten wurden; die Übertretung derselben galt als ein schlimmes Vergehen. Und weil Gott als Urheber der 10 Gebote galt, war der Verstoss dagegen auch ein Vergehen gegen Gott.

In neutestamentlicher Zeit wurde der Begriff Sünde von der Gesellschaft vor allem mit Zöllnern und Prostituierten in Verbindung gebracht. Von den Zöllnern wurde behauptet, sie würden beim Geldeintreiben in die eigene Tasche wirtschaften. Doch das eigentlich Schlimme war, dass sie mit den Römern, der verhassten Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Sie galten also als Verräter am eigenen Volk. Die Prostituierten standen für eine entfesselte, ungezügelte Sexualität. Die Männer, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, wurden hingegen nicht als Sünder bezeichnet.

Auch später im Verlauf der Kirchgengeschichte wurde der Sündenbegriff häufig im Zusammenhang mit dem Thema Sexualität verwendet – und dies bis heute. Die kirchliche Sexualmoral brachte jahrhundertelang neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle hervor. Der erhobene Zeigefinger der Kleriker schüchterte viele Menschen ein und verhinderte oftmals ein gesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht sowie auch zum eigenen Körper. Bei dieser Fixierung auf das Thema Sexualität ging und geht auch heute noch häufig der Blick auf die eigentliche Bedeutung des Sündenbegriffes verloren.

Doch es ist wichtig, dass wir als moderne Menschen ein neues Verständnis vom Begriff Sünde bekommen, jenseits der moralisierenden wie auch der verharmlosenden Bedeutung.

Was also bedeutet der Begriff Sünde eigentlich? Das deutsche Wort Sünde kommt ursprünglich von Sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Ein Sund trennt z.B. eine Insel vom Festland.

In der Theologie wird Sünde häufig als ein Getrenntsein von Gott bezeichnet. Die sogenannte Sündenfallgeschichte am Anfang der Bibel beschriebt dies sehr gut: Die ersten Menschen im Garten Eden assen verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Sie hielten sich nicht an die Regeln, die Gott ihnen auferlegt hatte. Damit hatten sie das Recht verwirkt, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und wurden aus dem Garten Eden vertrieben. Die ganze weitere biblische Geschichte beschreibt diese wechselvolle Geschichte zwischen Gott und den Menschen, die von der Trennung gekennzeichnet ist.

Interessant ist auch die griechische Bezeichnung für Sünde. Das griechische Wort „Hamartia“ bedeutet wörtlich „Zielverfehlung“, es stammt ursprünglich aus dem Bogenschiessen. Sündigen heisst in diesem Sinne also so viel wie daneben treffen. Man hat vielleicht das richtige Ziel anvisiert, ist aber nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es auch wirklich zu erreichen.

Wir können sagen: Sünde als Trennung und als Zielverfehlung verhindert, dass die Liebe Gottes, also die Energie des Lebens, frei fliessen und uns wirklich erreichen kann. Sünden sind hier nicht einzelne Übertretungen, sondern Haltungen, die uns daran hindern, unser Potenzial wirklich auszuschöpfen und das wahre Leben, das für uns bestimmt ist, auch wirklich zu leben. Oftmals errichten wir uns selber Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens abschneiden. Das können z.B. irrationale Ängste sein, ein mangelndes Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten, die Unfähigkeit, unsere Mitmenschen anzunehmen, mangelnder Mut, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, ein unverrückbares Verharren auf die eigenen Positionen oder ein Fixiertsein auf Erfolg und materiellen Besitz. Einzelne Übertretungen können aus diesen Haltungen resultieren, die Wurzel der Sünde liegt aber anderswo. Sie besteht im Versuch, das Leben mit untauglichen Mitteln zu bewältigen. Sünden sind also Mogelpackungen, sie versprechen etwas, das sie nicht halten können. Es sind Grundhaltungen, die uns von Gott, unseren Mitmenschen und von uns selbst trennen und dazu führen können, dass wir unser eigentliches Leben verfehlen können so wie ein Bogenschütze das Ziel.

Die katholische Theologie entwarf einen Katalog der 7 Todsünden: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Masslosigkeit und Unkeuschheit. Heute würde man diesen Katalog für den modernen Menschen vielleicht etwas anders formulieren. Vor allem der Begriff „Todsünde“ wirkt sehr bedrohlich. Dass der Tod der Sünde Sold sein soll, ist eigentlich seit Jesus Christus überholt. In Jesus Christus hat Gott uns unsere Liebe erwiesen, und das bedeutet die Vergebung der Sünden. Das und nichts anderes ist die Botschaft des Evangeliums. Die Sünde führt nicht automatisch zum Tod. Es gibt einen Ausweg aus dem sündigen Leben. Natürlich gehören zur Vergebung Einsicht, Busse und Umkehr. Doch das Schöne ist: Die Vergebung kommt zuerst! Weil wir die Vergebung erfahren haben, werden wir fähig zur Umkehr und frei, dem Guten zu dienen. Wie es im Römerbrief heisst: Wir sind nicht länger Knechte der Sünde, sondern sind nun befreit dazu, Gott und der Gerechtigkeit zu dienen.

Wie dies konkret aussehen kann, zeigen uns Auflistungen der Tugenden als Gegenpole zu den Sünden. Der Galaterbrief listet die sogenannten „Früchte des Geistes“ auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut. In der kirchlichen Kunst werden die vier Kardinaltugenden des Aristoteles Gerechtigkeit, Klugheit, Mässigung und Tapferkeit ergänzt mit den drei biblischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es gilt also, zu unseren sündigen Grundhaltungen die entsprechenden Gegenhaltungen, also die Tugenden zu entwickeln. Das und nichts anderes bedeutet Umkehr. Es setzt voraus, dass wir uns unserer sündigen Haltungen bewusst sind und dass wir eine Umkehr – also eine Befreiung davon – wirklich bewusst wollen. Ich betone nochmal, dass dies nicht eine Voraussetzung zur Vergebung ist, sondern eine Folge davon.

Wir dürfen uns also als Menschen verstehen, welche die Vergebung bereits erfahren haben. Dann werden wir frei, unserer Sündigkeit ins Gesicht zu schauen und können uns auf dem Weg machen, uns befreien zu lassen zum Dienst am Guten.

Alles hat seine Zeit…

Predigt am 20.03.16 (Goldene Konfirmation)

Alles, was auf der Erde geschieht,

hat seine von Gott bestimmte Zeit:

2 geboren werden und sterben,

einpflanzen und ausreißen,

3 töten und Leben retten,

niederreißen und aufbauen,

4 weinen und lachen,

wehklagen und tanzen,

5 Steine werfen und Steine aufsammeln,

sich umarmen

und sich aus der Umarmung lösen,

6 finden und verlieren,

aufbewahren und wegwerfen,

7 zerreißen und zusammennähen,

schweigen und reden.

8 Das Lieben hat seine Zeit

und auch das Hassen,

der Krieg und der Frieden

Alles, was auf der Erde geschieht, hat seine von Gott bestimmte Zeit.

(Prediger/Kohelet 3, 1-8, 1)

 

Liebe goldene Konfirmandinnen und Konfirmanden!

Sie sitzen hier, in dieser Kirche, in der Sie vor 50 Jahren konfirmiert wurden.

Ich kann mir vorstellen, dass dieser Moment für Sie ein besonderer Augenblick ist. Ich möchte Sie jetzt dazu einladen, einmal ganz bewusst zurückzudenken an jenen Palmsonntag 1966, als Sie hier als Konfirmandin oder Konfirmand in dieser Kirche sassen. Malen Sie sich diesen Moment ganz genau aus: Wie waren Sie gekleidet? Wissen Sie noch, wer neben Ihnen sass? Wie war die Kirche dekoriert? Welche Musik wurde gespielt, welche Lieder gesungen? Erinnern Sie sich noch daran, worüber gepredigt wurde? Und vor allem: Was hatten Sie für Gefühle in diesem Gottesdienst? War es gespannte Erwartung? Freude? Vielleicht auch etwas Angst oder Nervosität? Vielleicht ärgerten Sie sich auch über etwas oder waren aus irgendeinem Grund enttäuscht? Gab es auch Überraschendes?

Und was war das für ein Gefühl, als Sie nach vorne gerufen wurden zum eigentlichen Akt der Konfirmation? Wissen Sie noch ihren Konfirmationsspruch?

Und wie ist nachher der Tag verlaufen? Wie war die Feier? Wer war dazu eingeladen? Was gab es für Geschenke? Von wem gab es Glückwünsche?

Was hat dieser Anlass für Sie damals bedeutet?

Früher galt die Konfirmation noch mehr als heute als besondere Zäsur im Leben. Damals hiess es noch: Nach der Konfirmation darfst Du zum Abendmahl, nach der Konfirmation darfst Du in den Ausgang gehen etc. Man feierte mit diesem Anlass ganz bewusst den Übertritt ins Erwachsenenalter. Wie war das bei Ihnen? Was hat sich nach der Konfirmation für sie verändert?

Und was für Gefühle lösen diese Erinnerungen bei Ihnen jetzt aus? Vielleicht sind Sie belustigt, vielleicht ist es eher ein Gefühl der Wehmut, vielleicht schauen Sie mit Nachsicht und Verständnis auf das junge Mädchen oder den jungen Burschen, der oder die Sie damals waren, und müssen unwillkürlich über sich selber schmunzeln? Oder gibt es auch schmerzhafte Gefühle im Zusammenhang mit diesem besonderen Tag?

Und was hatten Sie damals für Träume? Hatten Sie bereits eine Lehrstelle oder wollten Sie auf eine höhere Schule wechseln – oder ins Welschland gehen? Sahen Sie Ihre berufliche Laufbahn schon vor sich oder war sie noch ungewiss? Hatten Sie Träume von einer Heirat und einer Familie? (Und wenn ja, wussten Sie vielleicht auch schon, mit wem Sie sich das wünschten?). Oder hatten Sie vielleicht ganz andere Pläne? Hatten Sie Träume, die Sie heute belächeln? Oder hatten Sie damals noch gar keine Vorstellung, wohin die Reise Ihres Lebens gehen könnte?

Wie dem auch sei – ich denke, sie alle blickten wahrscheinlich mit Spannung auf das Erwachsenwerden und auf die neuen Freiheiten, die damit verbunden sein würden. Sie würden sich bald vom Elternhaus lösen und ihre eigenen Wege gehen können. Zur Zeit Ihrer Konfirmation standen Sie an der Schwelle zum Erwachsenwerden mit allen Gedanken und Gefühlen, die damit verbunden waren.

Und nun sitzen Sie hier, 50 Jahre später.

Alles hat seine Zeit.

Wenn sie jetzt auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken – wie ist es verlaufen? Welche Wünsche und Träume haben sich erfüllt, welche nicht? Haben Sie Dinge erreicht oder verwirklicht, von denen Sie als junger Mensch nicht einmal geträumt haben? Haben Sie vielleicht auch Ernüchterungen und Enttäuschungen erlebt? Hat Ihr Leben unerwartete Wendungen genommen? Zum Guten oder vielleicht auch zum Schlechten? Haben sich in ihrem Leben neue Horizonte aufgetan, von denen sie zum Zeitpunkt der Konfirmation noch keine Ahnung hatten?

Wohin hat Sie das Leben geführt, welche Wege haben Sie eingeschlagen?

Wo haben Sie Ihre eigenen Entscheidungen getroffen, wann und wie hat das Leben sich von selber gefügt? Haben Sie ihr Leben weitgehend selber gestaltet oder hat das Schicksal ihr Leben gestaltet?

Alles hat seine Zeit.

Der Bibeltext aus Prediger 3 bringt viele Beispiele aus dem Leben: Geboren werden und sterben, einpflanzen und ausreißen, töten und Leben retten, niederreißen und aufbauen, weinen und lachen, wehklagen und tanzen, Steine werfen und Steine aufsammeln, sich umarmen und sich aus der Umarmung lösen, finden und verlieren, aufbewahren und wegwerfen, zerreißen und zusammennähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Krieg und Frieden.

Überlegen Sie sich nun: Was davon gab es in Ihrem Leben? Sammeln und wegwerfen? Finden und verlieren? Wehklagen und tanzen? Sich umarmen und sich trennen? Lachen und Weinen? Lieben und Hassen? Sicher gab es vieles davon, denn solche Dinge kommen fast in jedem Leben vor. Auf Ihrem Lebensweg der letzten 50 Jahre haben Sie vielleicht manchmal Schwieriges, aber hoffentlich auch viel Schönes erlebt.

Alles hat seine Zeit.

Wie immer Ihr Leben in den letzten 50 Jahren auch verlaufen sein mag – es stellt sich nicht die Frage, ob es ein eher gutes oder ein eher schlechtes Leben war. Es geht vielmehr darum, wie wir das, was wir erleben deuten. Sehen wir uns als Spielball des Schicksals oder haben wir unser Leben selber in die Hand genommen? Ist unser Leben eine Anhäufung beliebiger Ereignisse, oder können wir so etwas wie einen roten Faden, einen tieferen Sinn erkennen? Betrachten wir unser Leben als eine Verkettung sinnloser Zufälle? Oder gibt es für uns eine höhere Macht, unter der unser Leben Sinn und Bedeutung bekommt? Können wir in unserem Lebensweg auch Gottes Führung, Gottes Mitgehen und Begleitung erkennen? Können wir in Gott die Macht sehen, unter deren Schutz und Schirm wir unseren Weg gehen konnten? Konnten wir auch in schwierigen Zeiten eine sinnvolle Führung durch Gott erkennen? Haben wir durch den Glauben Trost, Hoffnung und Kraft erfahren können? Oder haben wir manchmal auch Gottes Beistand vermisst?

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage: Was ist die führende Kraft in unserem Leben? Auf welchen Werten haben wir unser Leben aufgebaut? Ist es die Hoffnung auf das schnelle Glück und das grosse Geld, auf den Erfolg notfalls auch mit Hilfe der Ellbogen, auf ein Leben in Saus und Braus, bei dem keines unserer Wünsche unerfüllt bleibt? Oder was ist es sonst? Welche Werte, Hoffnungen und Ziele haben uns geleitet und leiten uns bis heute?

Alles hat seine Zeit.

Vielleicht haben Sie zur Zeit Ihrer Konfirmation in Vielem anders gefühlt und gedacht als heute. Doch etwas ist gleich geblieben: Sie gehen als getaufter Mensch durchs Leben; bei der Konfirmation haben Sie dies bewusst bestätigt. Das bedeutet, dass Ihr ganzes Leben unter dem Stern der Taufe steht, oder wir können auch sagen: unter dem Stern Gottes. Alles, was Sie erlebt haben und was Ihnen zugestossen sein mag, können Sie unter diesem Vorzeichen betrachten. Das Leben ist eben nicht einfach eine Verkettung sinnloser Zufälle, es hat einen tieferen Sinn. Sie sind Gottes geliebtes Geschöpf, Gott hat Sie niemals allein gelassen, auch wenn einiges im Leben nicht nach Wunsch verlaufen sein sollte.

Alles hat seine Zeit.

Es gibt auch eine Zeit der Jugend und eine Zeit des Alters. Jetzt sind Sie im Pensionsalter, man nennt dies auch den 3. Lebensabschnitt oder sogar den Lebensabend oder den Lebensherbst. Aber ich möchte solche Begriffe gar nicht verwenden, sie tönen so, als sei das Leben eigentlich schon fast vorbei. Für viele Menschen in diesem Alter fängt aber das Leben noch einmal so richtig an. Es geht also heute nicht nur um die Vergangenheit, es geht auch um die Zukunft.

Wie wollen Sie nun den folgenden Lebensabschnitt in Angriff nehmen? Wollen Sie ihn aktiv gestalten oder ihn passiv erleiden?

Sehen sie sich als Objekt eines blinden Schicksals oder können sie ihrem Leben jedem Tag einen neuen Sinn abgewinnen? Möchten Sie den roten Faden ihres Lebens weiterspinnen, oder wollen Sie vielleicht mit etwas ganz neu anfangen? Und welchen Platz möchten Sie Gott dabei einräumen?

Sie haben es in der Hand: Als getaufte und konfirmierte Menschen sind Sie dazu eingeladen, jeden Tag neu im Lichte der Taufe und des Konfirmationssegens zu betrachten, das bedeutet nichts anderes als Ihr Leben mit den Augen Gottes anzuschauen.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen für ihren zukünftigen Lebensweg alles Gute und Gottes Segen.

„Fürchte dich nicht!“

Predigt am 21.02.16 / 28.02.16

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. (Jes. 43, 1-3)

„Fürchte dich nicht! – Fürchtet euch nicht!“ dieser Satz kommt in der Bibel immer wieder vor, in vielen verschiedenen Zusammenhängen. Ich habe eine kurze Bestandesaufnahme gemacht:

Im Alten Testament geht es häufig um die Furcht vor feindlichen Heeren in den vielen kriegerischen Auseinandersetzungen, in die das Volk Israel verwickelt war. Und die Feinde waren meistens militärisch überlegen. So heisst es im 2. Buch der Chronik: Fürchtet euch nicht und erschreckt nicht vor diesem großen Heerhaufen; denn nicht eure, sondern Gottes Sache ist der Krieg. (2. Chr. 20,15)

Des weiteren solle man sich auch nicht fürchten vor fremden Beamten, denen man unterstellt ist, und auch nicht vor einem fremden König – das war besonders wichtig in der Zeit, als das Volk Israel nach Babylonien deportiert worden war. Ebenso wenig fürchten soll man sich vor der Beschimpfung durch Menschen. Richter sollen sich nicht fürchten vor angesehenen Leuten, wenn sie ohne Ansehen der Person Recht sprechen. Man soll sich auch nicht fürchten vor fremden Göttern, die ja doch nur Götzenbilder aus Holz sind.

Mit dem Satz „Fürchte dich nicht“ spricht Gott den Menschen auch Mut zu, wenn sie vor grossen Herausforderungen stehen: z.B. Abraham vor dem Auszug aus seiner Heimat in eine unbekannte Zukunft, dem Volk Israel vor der Eroberung des Landes Kanaan, König Salomo vor dem Bau des Tempels. Die Aufforderung, sich nicht zu fürchten, steht auch oftmals bei der Berufung zum Propheten, wie z.B. bei Ezechiel: Du aber, Menschensohn, fürchte dich nicht vor ihnen, hab keine Angst vor ihren Worten! (Ez 2, 6)

Das Fürchte dich nicht steht auch oft im Zusammenhang mit der Verheissung einer besseren Zukunft, so auch bei der Rückkehr des Volkes aus der Babylonischen Gefangenschaft: Fürchte dich nicht, du, mein Knecht Jakob, spricht der Herr, verzage nicht, Israel! Denn ich bin es, der dich aus fernem Land errettet, /deine Kinder aus dem Land ihrer Gefangenschaft. Jakob wird heimkehren und Ruhe haben; /er wird in Sicherheit leben /und niemand wird ihn erschrecken. (Jer 46,28).

Mit dem Satz: Fürchte dich nicht werden auch häufig Erscheinungen Gottes oder von Engeln eingeleitet. Im Neuen Testament sagt ihn der Engel Gabriel zu Maria, als er ihr die Geburt Jesu verkündigt, ebenso die Engel zu den Hirten auf den Feldern Bethlehems. Schliesslich fällt dieser Satz auch am leeren Grab Jesu: Die Engel sagen es zu den Frauen, als sie nach Jesus suchen. Und schlussendlich sagt auch Jesus selber „Fürchtet euch nicht“, als er seinen Jüngerinnen und Jüngern als Auferstandener erscheint.

Wir sehen, die Aufforderung, sich nicht zu fürchten, zieht sich wie ein roter Faden sowohl durch das Alte als auch durch das Neue Testament. Manchmal ist es eine Ermahnung, im Sinne von: „Du sollst dich nicht fürchten“, aber in den meisten Fällen ist es eine Ermutigung: „Du brauchst dich nicht zu fürchten“. Mit dem Satz „Fürchte dich nicht“ spricht Gott den Menschen Mut zu und weckt ihr Vertrauen in Gottes Kraft. Es ist eine Ermutigung in Not und Bedrängnis. Spricht Gott diesen Satz zu den Menschen, dann folgt häufig der Nachsatz: „…denn ich bin mit dir!“

„Fürchte dich nicht!“ – dieser Satz ist keineswegs veraltet. Er spricht auch zu uns. Gerade in heutiger Zeit haben wir es nötig, diesen Satz immer wieder zugesprochen zu bekommen. Denn Angst ist eine Erscheinung unserer Zeit. Und es gibt viele Gründe dafür.

Ein Blick in die Zeitung wirkt alles andere als beruhigend: Ich nenne nur Stichworte wie Klimaerwärmung, Flüchtlingskrise, Syrienkrieg, Terrorbedrohung, Frankenkrise, die Angst vor Arbeitslosigkeit und vor dem Verlust von Sicherheit und Wohlstand. Und für viele anstehende Probleme unserer Welt gibt es keine einfachen, schnellen Lösungen. Die Angst scheint also ein vorherrschendes Gefühl unserer Zeit zu sein.

Was genau ist eigentlich Angst? Der Begriff Angst stammt aus dem indogermanischen „angh“, lateinisch „angustus“ und bedeutet „eng“. Und wirklich, das Gefühl der Angst hat viel mit dem Gefühl der Enge zu tun. Wer Angst hat, fühlt eine Enge in der Brust, der Atem geht flach. Auch die Wahrnehmung verengt sich. In der Angst kreisen die Gedanken immer wieder um die befürchteten Dinge, man bekommt sozusagen einen Tunnelblick, bei dem alle andersartigen Gedanken ausgeblendet werden. Auf diese Art können ängstliche Gedanken zu einem Teufelskreis führen, in dem die Angst sich immer mehr verstärkt.

Doch viele Menschen gestehen sich Angst nicht gerne ein. Angst kann sich dann auch auf andere Art äussern, z.B. als Wut oder Aggression. Viele aggressive Menschen haben eigentlich Angst. Man hat Angst davor, in der Gesellschaft zu kurz zu kommen, Angst, seinen vielleicht bescheidenen Wohlstand zu verlieren. Diese Angst wird häufig projiziert auf das Fremde. Alles Fremde kann beängstigend sein, eben weil es fremd, andersartig, nicht vertraut ist. Angst vor dem Fremden ist also in Wirklichkeit Angst vor vielem anderen. Diese Angst mag nachvollziehbar sein. Es ist jedoch nicht eine Haltung, die weiterhilft und Probleme löst. Es ist eine Angst, die den Blick und das Denken verengt. Darum müssen wir darauf hinarbeiten, dass den Menschen ihre Angst genommen wird.

Doch leider wird Angst häufig auch noch geschürt. Viele Ängste werden den Menschen eingeredet. Sicher, wir müssen uns auch hier in der Schweiz vielen Problemen stellen, aber wir leben immer noch in einem der sichersten und wohlhabendsten Ländern dieser Welt. Demzufolge ist Angst ein schlechter Ratgeber. Sie darf uns nicht daran hindern, gemeinsam nach konstruktiven Lösungen für die anstehenden Probleme zu suchen.

„Fürchte dich nicht!“ – sagt Gott zu den Menschen. Ist das ein leichtfertiges Wegwischen von Angst und Problemen? – Auch wenn es gute Gründe gibt, manchmal Angst zu haben, ist das beste Rezept dagegen, sich seinen Ängsten zu stellen. Der Satz „Fürchte dich nicht!“ negiert nicht die Angst, macht sie nicht lächerlich, sondern nimmt sie ernst. Er will sagen: Auch wenn ihr Angst habt, gibt es einen Ausweg daraus. Der Gegensatz von Angst kann Mut sein. Im christlichen Kontext ist es auch Vertrauen. Vertrauen bedeutet, an etwas zu glauben, dass man nicht sieht. Vertrauen bedeutet, einer Situation einen Vorschuss zu geben, daran zu glauben, dass sie auch gut ausgehen kann. Vertrauen bedeutet ganz konkret, seine Ängste nicht zu verdrängen, sondern ihnen zu begegnen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Es kann auch bedeuten, sich zu fragen: Was kann ich ganz konkret tun, damit die befürchtete Situation nicht eintritt? Es bedeutet, sich nicht gefangen nehmen lassen vom verengenden Tunnelblick, sondern den Blick zu weiten und nach Lösungen zu suchen, die aus den angstbesetzten Szenarien herausführen. „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!“ sagt Gott in der Bibel immer wieder zu den Menschen. Für religiöse Menschen bedeutet also die Überwindung der Angst ein Vertrauen auf Gott. So können wir aus dem beengenden Angstgefühl ausbrechen und unseren Blick auf gute Lösungen richten.

Gott ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Gott ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? – So betet es ein frommer Mensch in Psalm 27. Auch wenn dieser Mensch sich in Gefahr befindet, so setzt er doch sein Vertrauen ganz auf Gott. Das können wir uns zum Vorbild nehmen. Wenn wir Gott als unser Licht und unser Heil betrachten, wenn wir Gott als die Kraft unseres Lebens annehmen können, dann sollte eigentlich keine Gefahr uns noch schrecken können.

Auch wenn vieles im Leben bedrohlich sein mag – geben wir der Angst keine Chance. Begegnen wir unseren Ängsten und vertrauen wir auf den behütenden Gott, der uns begleitet in allen Bedrohungen. Nur so können wir an den Herausforderungen unserer Zeit arbeiten und den wirklich bedrohlichen Situationen Herr werden.

 

Von der Vergebung

Predigt am 10.01.16

Lesung: Lk 19, 1 – 10

1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch.
2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.
3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt.
4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.
5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.
6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
7 Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.a
8 Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.a
9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn aauch er ist Abrahams Sohn.
10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Predigttext: Mt. 18, 21 – 35

Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.a
23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig.
25 Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und aseine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen.
26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen.
27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch.
28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen.
30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte.
32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, aweil du mich gebeten hast;
33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?a
34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, abis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.

Petrus möchte wissen, wie oft er seinem Bruder, d.h. also seinem Mitmenschen vergeben soll. Die Antwort, die Jesus ihm gibt, mutet an wie eine Rechenaufgabe: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Das wird verständlich, wenn man die Zahlensymbolik kennt, die dahintersteckt: Die Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Wenn also z.B. im Buch Genesis erzählt wird, Gott habe die Welt in sieben Tagen erschaffen, dann wird damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott mit seiner Schöpfung ein vollkommenes Werk erschaffen hat.

Wenn jemand also bereit ist, so wie Petrus vorschlägt, seinem Bruder siebenmal zu vergeben, so ist das schon eine grosse Leistung. Doch Jesus überbietet das mit seiner Antwort: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal soll man jemandem verzeihen, der einem ein Unrecht angetan hat. Und damit ist eben nicht, wie in einer Rechenaufgabe, die Zahl 490 gemeint, sondern siebzigmal siebenmal heisst in der Zahlensymbolik so viel wie: unendlich oft. Man soll also seinem Nächsten unendliche Male vergeben, man soll mit der Vergebung niemals aufhören, so oft einem das Unrecht auch angetan wird.

Es ist also wirklich ein sehr hoher Anspruch, den Jesus da stellt. Aber er stellt ihn nicht ohne Grund.

Um das zu verdeutlichen, erzählt Jesus ein Gleichnis. Hier geht es um zwei Menschen, die finanzielle Schulden haben, der eine schuldet dem König 10 000 Zentner Silber. Das ist eine fast unermesslich hohe Summe. Auf Bitten und Drängen des Schuldners lässt der König Gnade walten. Er verzichtet darauf, ihn und seine Familie in die Schuldsklaverei zu verkaufen, wie das damals durchaus üblich war, und erlässt ihm den gesamten Betrag.

Von seinen Schulden befreit und einem schrecklichen Schicksal bewahrt, scheut sich aber dieser Knecht nicht davor, wiederum von einem anderen Knecht die Schulden einzutreiben. Dieser schuldet ihm 100 Silbergroschen, das ist ein vergleichsweise kleiner Betrag. Auch dieser Schuldner bittet um Gnade. Doch der Knecht ist gnadenlos und lässt seinen Mitknecht ohne Wenn und Aber ins Gefängnis werfen.

Obwohl also dem ersten Knecht grosse Gnade widerfahren ist, verleitet ihn das keineswegs dazu, selber gnädig zu sein.

Diese Geschichte erzählt nicht irgendjemand, sondern eben gerade Jesus, und darum wird schnell klar: Mit dem König im Gleichnis ist niemand anderes gemeint als Gott. Gott selber ist es, der gnädig ist, der Schulden vergibt – und damit sind natürlich keine finanziellen Schulden gemeint, sondern die Schuld an sich, also die Sünde.

Gott ist es also, der Schuld vergibt, und sei sie noch so gross. Hier kommt die ganze Gnade, Barmherzigkeit und Grosszügigkeit Gottes zum Ausdruck, die Jesus den Menschen versucht zu vermitteln. Das ist der eigentliche Kern seiner Botschaft, das ist das Evangelium.

Was die unendliche Vergebung betrifft, erinnert uns Jesus in seinem Gleichnis daran, dass Gott selber diesen hohen Anspruch bereits eingelöst hat. Gott ist uns mit seiner Gnade zuvorgekommen. Gott hat uns zuerst geliebt. Gott hat uns bereits vergeben, ohne dass wir dazu eine Vorleistung hätten erbringen müssen. Wir haben es in der Geschichte des Zöllners Zachäus gesehen: So wie Jesus Zachäus trotz seiner Sünden annimmt, nimmt Gott den Sünder an, so wie er ist, bedingungslos. Er rechnet dem Menschen die Sünde nicht an, auch wenn Gott mit der sündigen Tat selber nicht einverstanden ist. Jesus hat für Zachäus die Vorleistung erbracht, ihn trotz seiner Untaten anzunehmen. Diese neue Erfahrung des unbedingten Angenommenseins eröffnet Zachäus erst die Möglichkeit, seine Taten zu bereuen und von nun an ein besseres Leben anzustreben.

Was für Zachäus gilt, gilt für uns alle. Der Zöllner ist in der Bibel der Prototyp des sündigen Menschen. Doch wir dürfen nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Wir alle sind Sünder, wir alle sind Menschen mit Fehlern, ganz einfach, weil wir Menschen sind; und weil wir Fehler haben, machen wir auch Fehler, immer wieder im Leben. Es gibt Fehler, die sind weniger tragisch, aber es gibt auch Fehler, die weitreichende Konsequenzen haben, für uns und für andere. Und weil wir in einer gebrochenen Existenz leben, haben wir auch immer wieder die Vergebung nötig. Jesus spricht uns diese Vergebung durch Gott zu. Das gibt uns die Freiheit, immer wieder neu anzufangen, auch wenn wir Fehler gemacht haben, versagt haben, gescheitert sind oder auch anderen Leid zugefügt haben. Diese grundsätzliche Vergebung durch Gott lässt uns trotz unserer Fehler und Schwächen als würdige Menschen erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Erst das gibt uns die Chance, unsere Fehler zu bereuen und wenn möglich auch wieder gut zu machen.

Die Botschaft des Evangeliums ist: Gott hat uns zuerst geliebt. Diese Liebe müssen wir uns nicht verdienen, sie ist einfach schon da, wie ein Geschenk, das uns aus purer Grosszügigkeit gemacht worden ist. Gott nimmt uns an, so wie wir sind, mitsamt unseren Fehlern, Schwächen, Widersprüchlichkeiten und Gebrochenheiten. Wenn wir das verstanden haben, können wir uns als von Gott geliebte Menschen begreifen. Das und nichts anderes bedeutet Glaube.

Und das hat Folgen. Wenn wir uns von Gott bedingungslos angenommen fühlen, dann können wir uns auch selber annehmen. Denn unsere grössten Kritiker sind ja meistens wir selbst. Wir sind oftmals gut darin, anderen vorzubluffen, wie gut, fehlerfrei und leistungsfähig wir sind. In unserer Gesellschaft mussten wir das lernen. Wer nach oben kommen und Erfolg haben will, darf sich keine Blösse geben. Fehler und Schwächen zuzugeben kommt manchmal fast einem sozialen Selbstmord gleich, besonders auf der Karriereleiter. Doch wenn wir alleine in den Spiegel schauen, sehen wir auch unsere Fehler und Unzulänglichkeiten. Wenn wir uns aber selber annehmen, dann können wir auch zu unseren eigenen Fehlern und Schwächen stehen – und uns trotzdem dabei selber lieben.

Und es gibt noch eine zweite Konsequenz: Wenn wir uns von Gott geliebt fühlen und uns selber annehmen können, dann können wir auch unsere Mitmenschen genauso annehmen und lieben wie Gott uns.

Wenn Gott uns unsere Schuld vergibt, sollen wir auch unseren Mitmenschen vergeben. Die Gnade und Grosszügigkeit, die wir selber erfahren, sollen wir weitergeben in unserem sozialen Miteinander. Daher kommt also die Forderung, 7 mal 70 mal, also unendlich oft zu vergeben.

Doch wie soll das gehen? Geht es hier um eine „Schwamm drüber“-Mentalität? Soll alles Unrecht ungesühnt bleiben? Auch z.B. bei kriminellen Handlungen? Es ist ja auch wichtig, dass Unrecht gesühnt wird. Dafür sorgt unser Rechtsstaat. Das geschieht vor allem auch zugunsten der Opfer. Wenn man Opfer eines Verbrechens geworden ist, muss man das Gefühl haben können, dass einem Gerechtigkeit widerfährt. Dazu gehört die Verfolgung und Bestrafung der Täter. Aber genauso wichtig ist es, dem Täter, wenn er seine Strafe verbüsst hat, auch wieder eine Chance zu geben, sich zu verändern, sein Leben weiterzuführen und neu zu ordnen. Und dann ist der Weg der Vergebung wichtig. Und zwar für beide Seiten. Auch für das Opfer kann es sehr befreiend wirken, vergeben zu können, auch mal sagen zu können: Jetzt kann ich es gut sein lassen. Wer hingegen nie vergeben kann, wird mit der Zeit verbittern. Wenn Schuld endlos aufgerechnet und erlittenes Unrecht unbedingt heimgezahlt werden muss, zieht das neues Unrecht nach sich. Dann kann ein ewiger Teufelskreis entstehen von jahrelangen Fehden, die sogar über Generationen hinweg anhalten können. Auf diese Art sind schon viele Kriege entstanden. „Auge um Auge führt dazu, dass die ganze Welt erblindet“ – so brachte es Mahatma Gandhi auf den Punkt.

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. So beten Christen auf der ganzen Welt regelmässig im Unservater. Es ist ein zentraler Gedanke in unserem Glauben: die Liebe und Annahme, die wir durch Gott erfahren, können wir weitergeben an unsere Mitmenschen. So können wir uns der Liebe durch Gott würdig erweisen und einen wichtigen Beitrag leisten für ein friedliches Zusammenleben der Menschen bei uns und in der Welt.

 

 

Zwischen den Jahren

Predigt am 31.12.15/01.01.16

10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und adu sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.   (Gen. 28,10 – 15)

 

“Zwischen den Jahren“ – so nennt man diese Tage auch, in denen wir jetzt gerade leben.

In früheren Zeiten gab man den Tagen zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar eine besondere Bedeutung und nannte sie auch die „Zwölfnächte“, denn genau so viele Nächte sind es zwischen diesen beiden Daten; Silvester und Neujahr liegen genau in der Mitte. Der Ursprung dieser Zählung liegt im Unterschied zwischen dem Sonnenkalender und dem Mondkalender begründet. Zählt man, so wie früher, die Tage des Jahres nach den Mondphasen, so fehlen gegenüber unserem gewohnten 365 Tagen genau diese 11 Tage bzw. 12 Nächte. So betrachtete man früher diese Zeit auch als „Tage ausserhalb der Zeit“, als eine Art zeitliches Niemandsland.

Im alten Volksglauben spielten diese Tage und vor allem die Nächte eine besondere Rolle.

Man nannte sie auch die Rauhnächte. Woher das Wort kommt, ist umstritten. Vielleicht kommt es von Rauch, weil Häuser und Ställe in dieser Zeit mit Kräutern oder Weihrauch ausgeräuchert wurden, um böse Geister zu vertreiben. Oder es kommt vom Begriff rau. Man glaubte, es trieben sich raue Gestalten herum, z.B. mit Fell bekleidete Dämonen, die nachts ihr Unwesen treiben. Zur Mitte der Rauhnächte, also zu Silvester, soll die Wilde Jagd aufbrechen. In dieser Zeit stehe das Geisterreich offen und die Seelen der Verstorbenen sowie die Geister haben Ausgang, so glaubte man. Noch viele andere Geschichten und mancher Aberglaube ranken sich um die Rauhnächte. Lange Zeit hat man es in diesen Tagen vermieden, Wäsche zu waschen, damit sich die Geister nicht in der Leine verfangen und man sie dann nicht mehr los wird.

Auch heute noch haben sich Überbleibsel abergläubischer Bräuche um den Jahreswechsel erhalten, wie z.B. das Bleigiessen, um die Zukunft vorherzusehen. Auch Horoskope haben zu dieser Zeit wieder Hochkonjunktur. Man sagt auch heute noch, in diesen Nächten haben viele Menschen besonders intensive Träume.

Wie dem auch sei – auch für rational denkende Menschen stellen diese Tage eine Art Übergangszeit dar. Auch ohne in Aberglauben zu verfallen, kann man diese Zeit als eine Art Zwischenzeit betrachten, eine Zeit, in der die Zeit etwas anders läuft als sonst.

Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei, die Verwandten abgereist, die letzten Besuche sind gemacht worden. An den Feiertagen kommen oftmals Familienangehörige zusammen, die sich sonst fast das ganze Jahr über nicht sehen. Es können Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen zutage treten. Aber auch wenn alles gut ist, können die Weihnachtstage auch eine emotionale Belastung sein. Weihnachten ist ein sehr gefühlsbetontes Fest, im Guten wie im Schlechten. Die Emotionen des Festes mit all seiner Symbolik, das Schenken und beschenkt werden, die Familienzusammenkünfte und oftmals auch die Erinnerungen, die mit diesem Fest verbunden sind, sind für viele Menschen auch emotional anstrengend oder können gar aufwühlend sein.

Wenn das alles vorbei ist, hat man meist ein Bedürfnis nach Ruhe. Mit Silvester und Neujahr stehen weitere Feierlichkeiten an. Bis Anfang Januar wieder der Alltag losgeht, sind noch ein paar Tage Zeit. Die Zeit zwischen den Jahren eben.

Viele Menschen nutzen diese Tage als eine Art innere Reinigungszeit. Es ist eine Zeit zum Innehalten. Man wird nachdenklich, zieht Bilanz über das vergehende Jahr und hält Ausblick auf das kommende. Viele Menschen achten in dieser Zeit auch besonders auf ihre Träume. Das muss nicht Aberglaube oder Esoterik bedeuten. Träume als Sprache der Seele sind ein guter Indikator dafür, was den Menschen im Innersten beschäftigt. Indem sie unser inneres, unterbewusstes Wissen anzapfen, sind sie ein Mittel der Verarbeitung von Erlebnissen und können uns auch etwas darüber sagen, was wir für die Zukunft unbewusst wünschen, hoffen oder befürchten.

In der Bibel wurden Träume als Sprache Gottes verstanden. Gott spricht in Träumen zu den Menschen, warnt sie vor Gefahren und gibt ihnen oftmals auch Anweisungen. Manchmal gibt Gott den Menschen im Traum aber auch wunderschöne Verheissungen über ihre Zukunft, wie z.B. an Jakob, der im Text unserer Lesung eine Himmelsleiter schaut. Mehr dazu später.

Aber auch wenn man mit Träumen nicht viel anfangen kann, lohnt es sich, in diesen Tagen über sich und sein Leben nachzudenken, Rückschau zu halten und das kommende Jahr gedanklich vorwegzunehmen.

Beim Rückblick auf das vergangene Jahr können folgende Fragen leitend sein:

Was durfte ich in diesem Jahr Schönes erleben? Welche schönen und intensiven Tage, Zeiten und Ereignisse sind besonders in meinem Gedächtnis haften geblieben? Wann habe ich das Leben ganz besonders geniessen dürfen? Habe ich neue Erfahrungen gemacht, die mir neue Perspektiven gezeigt haben? Was durfte ich lernen? Wo habe ich mich persönlich weiterentwickelt? Welche Menschen sind in diesem Jahr für mich wichtig gewesen? Und: Welche schwere Zeiten musste ich durchleben, was habe ich an Schwierigem erlebt, was ist mir zugestossen? Wie bin ich damit umgegangen? Wie konnte ich es bewältigen? Kann ich im Nachhinein auch im Schweren einen Sinn finden? Konnte oder kann ich aufhören, mit dem Unausweichlichen zu hadern? Kann ich auch das Unschöne, Traurige und Schwierige im Leben akzeptieren?

Wenn es um die Vorschau auf das neue Jahr geht, können wir uns diese Fragen stellen:

Was erwarte ich vom neuen Jahr? Was hoffe ich? Welche Daten und Ereignisse stehen schon fest? Was ist noch offen? Worauf freue ich mich? Wie kann ich meine Zeit gestalten, damit sie schön und erfüllend wird? Wie kann ich Beziehungen zu anderen Menschen intensivieren? Wie kann ich besonders gut zu mir selber schauen, damit es mir auch in anstrengenden Zeiten gut geht? Mit welchen Gewohnheiten und Ritualen kann ich meinen Alltag erleichtern und verschönern? Was möchte ich Neues in mein Leben bringen? Was möchte ich lernen? Wie kann ich mich persönlich weiterentwickeln? Wie kann ich Sinn, Tiefe und Erfüllung finden?

Aber auch: Was befürchte ich? Wovor habe ich Angst? Welche grossen Aufgaben und Herausforderungen warten auf mich? Wie kann ich sie am besten bewältigen? Wer kann mir dabei helfen? Bin ich auch gerüstet für das Unvorhersehbare? Was kann mir auch in schweren Zeiten Trost, Kraft und Hoffnung geben?

Und schliesslich stellt sich sowohl bei der Rückschau als auch bei der Vorschau die Frage: Welche Rolle spielt Gott dabei? In der vergangenen Zeit wie auch in der Zeit, die noch kommen wird? Habe ich Gottes Begleitung und Beistand im letzten Jahr wahrnehmen können? Wofür empfinde ich Dankbarkeit? Wie will ich Gott in mein Leben einbeziehen, um das Schöne wie auch das Schwere aus Gottes Hand nehmen zu können?

Vielleicht finden Sie in der nächsten Zeit ruhige Stunden, um sich mit solchen Fragen zu beschäftigen.

Auf dem Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet sich auch Jakob, als er seinen Traum von der Himmelsleiter träumt. Jakob ist unterwegs, er ist auf der Flucht, seine Zukunft ist ungewiss und ihm stehen grosse Herausforderungen bevor. In dieser Situation lässt Gott ihn dieses wunderschöne Bild schauen: Eine Leiter führt von ihm aus direkt in den Himmel. Engel steigen darauf auf und ab. Gott steht zuoberst und gibt Jakob eine Verheissung für seine Zukunft.

Und dabei sagt Gott etwas ganz Wichtiges: „Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“

Gottes Beistand auf unserer Lebensreise, in guten wie in schlechten Zeiten: Ich wünsche Ihnen, dass Sie dies in ihrem Leben erkennen können, sowohl in der Rückschau auf das vergangene Jahr als auch im Vorausblick auf das Kommende.

Mögen wir in allem, was uns begegnet, die Verbindung zum Himmel und Gottes Begleitung erfahren können, das ist mein Wunsch für uns alle in diesem neuen Jahr.