Worauf es ankommt

Predigt am 17.06.18

Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. (1. Korinther 7, 29a – 31)

Ein schwieriger Text. Wir sollen verheiratet sein, als wären wir es nicht? Weinen, so als weinten wir nicht? Uns freuen, als freuten wir uns nicht? Kaufen, als könnten wir das Gekaufte nicht behalten? Die Welt gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht? Was sollen wir denn sonst tun als das, was wir tun auch wirklich zu tun und was wir empfinden auch wirklich zu empfinden? Ist das für uns heute noch eine sinnvolle Lebenshaltung, was Paulus da verlangt?

Um die Worte des Paulus zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, in welchem Kontext sie geschrieben worden sind.

Diese Worte sind geprägt von der Naherwartung, die damals in der jungen Christenheit vorherrschend war. Man glaubte, Christus würde nach seinem Tod bald wiederkommen, um alle Welt zu richten, nur die Christen würden ins Jenseits gerettet werden. Das Ende aller Zeit sei nahe – dieser Glaube führte dazu, dass viele der frühen Christen aufhörten zu arbeiten, ihre Habe verkauften und das Geld der Gemeinde spendeten und dort feiernd und betend die Wiederkunft Christi erwarteten. Umso grösser wurde die Verunsicherung, als die Zeit verstrich und das Weltenende mehr und mehr auf sich warten liess. Es gab sogar Gemeinden, die völlig verarmten, weil sie sich nicht auf die Zukunft eingerichtet hatten. Und es tauchten neue Fragen auf: Was ist mit den Christen, die inzwischen verstorben sind, bevor Christus wieder kommt? Sollen wir Christen uns doch noch auf diese Welt einlassen? Und wie sollen wir in ihr leben? Soll man z.B. noch heiraten? Wie sollen wir uns gegenüber dem Staat verhalten? Soll man Besitz haben und Handel treiben oder nicht?

In diese Verunsicherung hinein schrieb Paulus seine Worte, und nur in diesem Zusammenhang können wir sie verstehen.

Paulus sagt zu den Korinthern: Ja, ihr lebt in dieser Welt, solange die Wiederkunft Christi auf sich warten lässt. Ihr sollt auch in der Welt leben und das tun, was auch andere Menschen tun: Heiraten, weinen, lachen, kaufen und „die Welt gebrauchen“, also sie mitgestalten, arbeiten, handeln und vieles mehr. Doch etwas ist anders: Ihr sollt verheiratet sein, als wärt ihr es nicht; wenn ihr weint, dann so, als weintet ihr nicht, wenn ihr euch freut, dann so, als freutet ihr euch nicht, wenn ihr etwas kauft, dann sollt ihr euch vorstellen, ihr würdet das Gekaufte nicht behalten, ihr sollt all das, was ihr in der Welt tut, so tun, als tätet ihr es nicht. Das, was ihr tut in dieser Welt, sollt ihr auch wirklich tun, aber immer unter einem gewissen Vorbehalt. Ihr sollt euch nicht wirklich auf diese Welt einlassen. Denn ihr wisst, dass alles nur vorläufig ist. Nichts von dem, was ist, hat wirklich Bestand. Ihr sollt euer Herz nicht zu fest daran hängen.

Bevor ich versuche, diese Gedanken auf uns zu übertragen, möchte ich den Worten des Paulus einen anderen Text entgegensetzen, einen Text, der eigentlich das Gegenteil sagt. Es handelt sich um eine kurze buddhistische Geschichte.

Einige Schüler gingen zu ihrem Meister. Sie wollten wissen, warum er immer so glücklich, zufrieden und ausgeglichen sei. Der Meister sagte zu ihnen: „Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich mich setze, dann setze ich mich. Wenn ich esse und trinke, dann esse und trinke ich.“ Die Schüler schauten sich verdutzt an und einer sagte: „Meister, was du sagst, tun wir auch. Wir schlafen, gehen, essen und trinken. Doch wir sind nicht glücklich. Was also ist das Geheimnis?“ Der Meister wiederholte das soeben Gesagte. Dann sagte er: „Sicher liegt auch ihr und ihr geht auch und ihr esst und trinkt auch. Aber während ihr liegt, steht ihr schon auf. Während ihr aufsteht,  geht ihr schon, und während ihr geht, esst und trinkt ihr schon. So sind eure Gedanken ständig woanders und nicht da, wo ihr gerade seid. Das Leben findet immer im Jetzt statt. Lasst euch auf diesen Augenblick ganz ein und ihr habt die Chance, wirklich glücklich zu sein.“

Der Meister propagiert genau das Gegenteil von dem, was Paulus sagt. Wir sollen das, was wir tun, wirklich ganz tun, sollen ganz da sein, wo wir gerade sind, in unseren jeweiligen Handlungen ganz präsent sein. Der Meister in der Geschichte prangert bei seinen Schülern ein anderes Verhalten an: Wenn sie etwas tun, sind sie in Gedanken schon bei der nächsten Handlung. Sie sind nicht wirklich ganz bei dem, was sie gerade machen.

Das Verhalten der Schüler passt gut zu unserer heutigen Lebensweise. Das Lebenstempo hat sich in den letzten Jahren stark beschleunigt. Viele Menschen glauben nicht mehr an ein Leben nach dem Tod. Stattdessen wird das Leben vor dem Tod immer wichtiger. Man möchte möglichst viele Lebensmöglichkeiten ausschöpfen, will alles erleben, was man in dieser Welt erleben kann, und zwar möglichst bald, denn das Leben ist kurz. Multitasking , das Hetzen von einer Aktivität zur anderen, die Selbstoptimierung im Beruf und in der Freizeit sind ein Merkmal unseres modernen Lebens geworden. Die Technologie mit Computern und Smartphones treibt dies voran: Man kann heute jede Information jederzeit und überall erhalten, genauso wie man jederzeit und überall erreichbar ist und inzwischen auch sein muss. Dieses Karussell dreht sich immer schneller. Kein Wunder, dass die meisten Menschen sich so verhalten wie die Schüler in der Geschichte: Wenn man etwas tut, ist man in Gedanken bereits bei der nächsten Aktivität. Niemals ist man ganz bei der Handlung, die man gerade ausführt. Man könnte aus sagen: Niemals ist man ganz bei sich selber.

Das Leben findet immer im Jetzt statt, sagt hingegen der Meister. Also lebt auch im Jetzt! Seine Alternative ist ganz einfach: Wenn ich liege, dann liege ich. Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Es bedeutet, immer nur dort zu sein, wo man gerade ist, bei der Handlung, die man gerade ausführt. Es ist ganz einfach und für uns doch schwierig. Leben im Hier und Jetzt. Sich nicht ablenken lassen von dem, was danach kommt. Im Moment präsent sein. Denn leben können wir ja nur in der Gegenwart, also weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft ein Geheimnis und jeder Augenblick ist ein Geschenk, sagt ein Spruch. Das ist auch meine Lebenshaltung, mit der ich gegen das beschleunigte Lebenstempo unserer Zeit anzukämpfen versuche. Und ich hoffe, dass auch Sie jetzt ganz hier sind und nicht in Gedanken z.B. schon beim Fussballmatch heute Abend.

Und diese Lebenshaltung ist von den Empfehlungen des Paulus gar nicht so weit weg, wie es zunächst den Anschein macht.

Beide Texte gehen von der Vergänglichkeit aus. Unabhängig davon, ob es nun um das Weltendende oder um unsere Sterblichkeit geht: Niemand von uns kann wissen, ob wir den morgigen Tag noch erleben. Und diese Tatsache lehrt uns, den Augenblick erst recht zu schätzen. Das Bewusstsein, dass das Leben begrenzt ist, macht das Leben in der Gegenwart intensiver. Viele Menschen, die eine schwere Krankheit überstanden oder einen Unfall überlebt haben, sagen: Ich lebe nun viel bewusster, weil ich weiss, dass das Leben nicht selbstverständlich ist.

Und so kommen wir zumindest in die Nähe des Paulustextes: Diese Welt und alles, was wir darin tun, ist vergänglich. Was wir uns erarbeiten, was wir erreichen, aber auch jede Freude und jeder Schmerz ist vergänglich. Dadurch relativiert sich alles. Wir müssen nicht mehr krampfhaft an etwas festhalten oder verbissen unseren Zielen nachjagen. Wir können schmerzhafte Momente aushalten mit dem Wissen: Der Schmerz geht vorbei. Und die freudigen Momente können wir umso mehr auskosten, weil wir wissen: Sie sind nicht selbstverständlich, auch sie können vorbei gehen. Auf diese Art können wir uns viel mehr auf das konzentrieren, was wirklich wichtig, kostbar und unvergänglich ist. Und wir lernen, dankbar zu sein für jeden guten Moment im Wissen: Er kommt niemals wieder.

Denn es gibt zwei verschiedene Arten von Zeiten: Die Zeit, die genutzt sein will, zum Arbeiten, für den Erfolg, zum Lernen, für Hobbies und Ähnliches. Und es gibt die andere Zeit: Die Zeit, um innezuhalten, zu spüren, zu riechen, zu schmecken, zum sich besinnen, zum Reden oder auch zum Schweigen, zum Alleinsein oder das Miteinander geniessen. Das ist die Qualitätszeit, oder wir könnten auch sagen: Die Zeit Gottes.

Zum Schluss gebe ich Meister Eckart das Wort: Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe.

Bedingungslose Liebe

Predigt zum Karfreitag 2018

Stugl 2 (5)

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er betrübt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! (Joh. 13, 21 – 27)

 

Das Bild, das Sie hier sehen, ist ein Fresko aus der Kirche Stugls im Bündnerland. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert, darum ist nicht alles sehr gut erhalten. Doch es ist deutlich erkennbar, dass es sich hier um eine Abendmahlsszene handelt.

Jesus – hier übergross dargestellt mit einer Gloriole, sitzt mit seinen Jüngern zu Tisch. Zwei dieser Jünger fallen optisch aus dem Rahmen: Deutlich zu sehen ist der Jünger, der vor Jesu Brust mit dem Kopf auf dem Tisch liegt, es handelt sich um den Jünger, „den Jesus lieb hatte“, wie es im Johannesevangelium heisst. Dieser wird hier schlafend dargestellt. Schräg gegenüber von Jesus sehen wir einen Mann im Profil. Das ist Judas. Judas wird in der kirchlichen Kunst häufig im Profil, also von der Seite dargestellt. Das hat einen bestimmten Grund. Man sagte früher: Das Böse schaut einen nicht direkt an. Es handelt häufig hinterhältig und unberechenbar. Man kann ihm nicht in die Augen schauen. Judas ist derjenige, der Jesus wenige Stunden später verraten wird. Deshalb wird Judas mit dem Bösen identifiziert. Auch er trägt hier eine Art Heiligenschein, aber dieser ist nicht wie bei den Anderen golden, sondern grau, so wie ein Schatten.

Das Besondere an diesem Bild ist die Beziehung zwischen Jesus und Judas. Mit seiner rechten Hand reicht Jesus dem Judas das Brot, es sieht aus, als würde er ihn füttern. Mit den Händen macht Judas eine bittende Geste. Er erkennt sich selber als bedürftig, er braucht Jesu Zuwendung gerade in diesem Moment. Die Beziehung, die direkte Verbindung zwischen Jesus und Judas dominiert das gesamte Bild. Die Hand Jesu, die sich nach Judas ausstreckt, symbolisiert die besondere Zuwendung, die Jesus dem Judas zuteil werden lässt. Jesus weiss genau, dass Judas derjenige ist, der ihn bald verraten wird. Und doch gilt ihm seine ganze Nähe und Aufmerksamkeit, wir könnten auch sagen: seine Vergebung, seine Gnade, seine Barmherzigkeit, seine Liebe.

In dieser Geste wird etwas vom Wichtigsten an Jesu Botschaft deutlich: Seine Zuwendung gerade zu denen, die es am meisten nötig haben. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“, ist ein wichtiger Ausspruch von Jesus. In der gesamten Zeit seines öffentlichen Wirkens hat er sich den Menschen zugewandt, die am Rande der Gesellschaft waren: Den Zöllnern, Prostituierten, Kranken, also nach landläufiger Meinung: Den Sündern. Jesus hat nicht nach ihrer Schuld gefragt, sondern sie angenommen, so wie sie waren, hat ihnen ihre Würde zurückgegeben und sie aufgerichtet zu Menschen, die wieder aufrecht gehen können. Gerade ihnen hat er die Liebe Gottes verkündigt. Das war Jesu Mission: Sich um die Menschen zu kümmern, die wegen ihrer Sündhaftigkeit in der Gesellschaft als die Letzten gelten. Jesus nimmt sich gerade dieser Menschen an, in ihrer Gebrochenheit, ihrer Schuld, ihrer Verzweiflung. Er vermittelt ihnen, dass gerade sie von Gott geliebt und angenommen sind. Das ist die Hauptbotschaft des Evangeliums.

Auch bei seinem letzten Mahl tut Jesus das, was er immer getan hat. Er widmet gerade dem seine volle Aufmerksamkeit, der es eigentlich am wenigsten verdient haben sollte. Doch diese Kategorie gibt es bei Jesus nicht. Bei ihm geht nicht um Verdienst, sondern um Bedürftigkeit. Von allen Jüngern, die an seinem Tisch sitzen, ist Judas derjenige, der Liebe und Vergebung am meisten nötig hat. Die Gesunden brauchen den Arzt nicht. Die, bei denen alles in Ordnung ist, die bereits in Harmonie mit ihm und Gott leben, brauchen Jesu Zuwendung am wenigsten. Deshalb ist der Jünger, der an Jesu Brust liegt, schlafend. Jesus muss sich nicht um ihn kümmern. Die Beziehung zwischen ihnen ist harmonisch. Stattdessen reckt Jesus seine Hand über ihn hinweg zu Judas. Diese Geste hat etwas fast Zärtliches an sich. Er füttert Judas wie eine Mutter ihr Kind. In dieser liebevollen Geste kommt bereits die Vergebung zum Ausdruck, die Judas so dringend nötig hat. Denn Judas ist verstrickt in Schuld und Sünde. Er kann daraus nicht mehr heraus. Auch jetzt wird er nicht mehr anders können, als das zu tun, was er den Hohepriestern zugesagt hatte. Jesus hindert ihn nicht daran. Gerade weil er weiss, was Judas vorhat, wendet er sich ihm mit besonderer Intensität zu. Judas weiss wohl, dass er sich jetzt schuldig macht. Darum ist er als Bittender ganz besonders auf der Suche nach Gott. Er braucht Gottes Liebe und Vergebung jetzt am allermeisten.

Und auch Jesus ist auf der Suche, nämlich nach denen, die verloren sind. Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist, sagte er einmal. Und seine Suche hört auch in den letzten Stunden seines Lebens, ja selbst am Kreuz nicht auf. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ – mit diesen Worten bittet er Gott um Vergebung für seine Peiniger und für die, die ihn ans Kreuz brachten. Die gesamte Kreuzigungsszene ist vor allem ein Ausdruck von Liebe und Vergebung. So seltsam es klingt: Jesus hängt am Kreuz als ein Vergebender. Auch noch in den schlimmsten Qualen nimmt er die Menschen an, und zwar bedingungslos.

Im Kreuzesgeschehen zeigt sich der bedingungslos liebende Gott. In Jesus Christus hat Gott sich in Menschengestalt in diese Welt hineinbegeben und hat sich damit der Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit dieser Welt ausgeliefert. Er vermeidet es nicht, eines der schrecklichsten Schicksale eines Menschen zu erleiden. Und selbst jetzt bleibt Gott den Menschen zugewandt, bleibt ein vergebender, bedingungslos liebender Gott. Das ist das Paradox und gleichzeitig die Grossartigkeit des Kreuzesgeschehens.

Nicht nur Judas, auch die anderen Jünger machen sich in dieser Nacht schuldig. Drei Jünger schlafen ein, als sie für Jesus wachen sollten. Nach der Verhaftung laufen die Jünger verstört auseinander, anstatt Jesus beizustehen. Und Petrus, der versprochen hatte, für Jesus einzustehen, verleugnet ihn dreimal. Trotz ihrer Schuld und ihres Versagens werden diese Jünger später die ersten Apostel, welche die Kirche Christi aufbauen. Dies ist nur möglich durch Gottes Vergebung.

In der Passionsgeschichte zeigt sich die Unzulänglichkeit des Menschen und gleichzeitig die unbedingte, vorbehaltlose Liebe Gottes ohne Wenn und Aber.

Man muss also kein Judas sein, auch kein römischer Soldat, um Gottes Vergebung zu benötigen. Die bedingungslose und vergebende Liebe Gottes brauchen wir alle. Auch wenn wir wohl nicht solche Untaten begehen wie Judas, ein kleinbisschen Judas steckt wohl auch in jedem Menschen. Jeder Mensch ist grundsätzlich fähig zum Guten wie auch zum Bösen. Jeder Mensch hat seine dunklen Seiten, seine Schatten, die er selber nicht sehen will oder kann. Niemand von uns kann es vermeiden, in Sünde verstrickt zu sein. Manchmal können wir gar nicht anders, als uns schuldig zu machen, selbst wenn wir das Gute anstreben. Jeder Mensch ist mitunter angewiesen auf Gottes Vergebung. Und die gute Nachricht ist: Wir bekommen diese Vergebung, und zwar umsonst. Die bedingungslose Liebe Gottes gilt uns allen. Wir können und dürfen mit all unseren guten und schlechten Seiten immer wieder vor Gott treten. Gott sucht uns und wendet sich uns zu, gerade in den Momenten, in denen wir das eigentlich am wenigsten verdient hätten. Voraussetzung ist einzig, dass wir offen und empfänglich sind für Gottes Liebe, so wie es Judas im Bild zeigt mit seiner bittenden und empfangenden Geste. Wir dürfen uns von Gott angenommen wissen, wie wir sind, gerade auch mit unseren dunklen Seiten. Das erst ist die Voraussetzung, damit wir schliesslich auch fähig werden zum Guten.

Am Beispiel des Judas können wir erfahren, dass Gottes Liebe bedingungslos ist und uns allen gilt. Das ist die Botschaft, die das Kreuz Christi uns verkündigt bis heute.

Und führe uns nicht in Versuchung…

Predigt über Matthäus 6, 9-13, gehalten am 14.01.18

„Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ – Diesen Satz beten wir in jedem Gottesdienst, verbunden mit der gesamten Christenheit auf der ganzen Welt. Neuerdings wird dieser uralte Satz, formuliert vor fast 2000 Jahren, in den Medien diskutiert.

Der Papst höchstpersönlich hat das lanciert. Dieser Bibelvers sei falsch übersetzt, so behauptet er. Es dürfe nicht heissen: Führe uns nicht in Versuchung, sondern: Lasse uns nicht in Versuchung geraten. Nicht Gott sei es, der in Versuchung führe, sondern der Satan. Auf Geheiss des Papstes wurde in einigen Ländern und Sprachen die Formulierung im Unservater angepasst. In den deutschsprachigen Kirchen scheint dies nicht der Fall zu sein. Ich bin froh darüber, denn ich bin mit dem Papst ganz und gar nicht einverstanden.

Ich finde zwar vieles gut, was Papst Franziskus tut und sagt – er lebt sein Papst-Sein in einem ganz neuen, einem sozialen, menschlichen Stil, der viele Hoffnungen weckt. Doch für mich als Reformierte ist es ein Unding, dass ein einzelner Mensch Stellvertreter Christi auf Erden sein sollte. Deswegen werde ich auch einem fortschrittlichen Papst gegenüber immer kritisch bleiben.

Ausserdem ist die Übersetzung und Exegese der Bibeltexte ja ein Spezialgebiet der protestantischen Theologie. Bereits viele Theologen (und seit knapp 100 Jahren auch Theologinnen) haben sich über die richtigen Übersetzungen den Kopf zerbrochen. Vom griechischen Urtext her gibt es keinen Grund, den Wortlaut dieses Verses zu ändern. Noch mehr aber irritiert mich die sachliche Argumentation des Papstes. Gott tut so etwas nicht, sagt der Papst, Gott führt nicht Menschen mit Absicht in die Versuchung hinein. Der Satz entspricht also nicht seinem Gottesbild. Aber ist es legitim, einen Bibeltext und sogar ein uraltes Gebet zu ändern, nur weil man mit dem Inhalt nicht ganz einverstanden ist? So gesehen könnten wir vieles in der Bibel in Frage stellen. Viele Bibelstellen präsentieren ein Gottesbild, das finster oder gar grausam ist und mit anderen Bibelstellen im Widerspruch steht. Sollten wir sie alle ändern zugunsten eines freundlicheren Gottesbildes? Ändern wir in Zukunft die Bibeltexte nach Belieben oder setzten wir uns weiterhin mit ihnen kritisch auseinander, auch wenn sie für uns sperrig und anstössig sind? In Bezug auf das Unservater könnten wir ja noch mehr in Frage stellen, z.B.: Ist Gott wirklich unser Vater? Und ist er wirklich im Himmel? Das Unservater ist ein traditionelles Gebet, das in der ganzen Christenheit gebetet wird. Es soll auf Jesus selber zurückgehen. Ich bin der Meinung, wir können uns in diese Tradition hineinstellen, ohne jedes einzelne Wort in Frage zu stellen.

In der Diskussion um diesen Vers geht es um nichts anderes als um das Gottesbild. Wenn der Papst sagt: Es sei nicht Gott, sondern der Satan, der in Versuchung führt, dann ist damit nicht viel gewonnen. Gibt es den Satan überhaupt, oder ist das Böse nicht einfach eine Realität, mit der wir leben müssen? Und wenn es den Satan gibt, warum lässt Gott ihn walten? Hat Gott keine Allmacht? Es dünkt mich allzu bequem, das, was uns nicht gefällt, einfach dem Satan zuzuschieben.

Im Bibelvers ist es ausdrücklich Gott, der die Menschen in Versuchung führt. Und es ist nur eine Nuance, ob Gott die Menschen in die Versuchung hineinführt oder nur geraten lässt.

Die Frage, warum Gott Böses und Leiden zulässt, ist eine uralte Menschheitsfrage. Bei Unglücken fragen wir: Warum hat Gott das zugelassen, und nicht: Warum hat Gott das getan? Doch in beiden Fällen geht es um einen Gott, der die Macht hat, Böses zu verhindern, dies aber nicht tut. Vielleicht können wir dieses Problem nur lösen, indem wir uns Gott ganz anders vorstellen. Sicher nicht als einen Gott, der aktiv ins Geschehen eingreift, sondern vielleicht als den „ganz Anderen“. Das würde bedeuten, das Unverständliche in der Welt so stehen zu lassen und nicht mehr Gott anzulasten.

Doch wenden wir uns dem Begriff „Versuchung“ zu. Was ist das überhaupt: „Versuchung“? Wir kennen den Begriff ja vor allem aus der Werbung: „Die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“. Die Sahnetorte ist eine Versuchung, wenn man eigentlich abnehmen will. Man gerät in Versuchung, sich das neueste Smartphone zu kaufen, obwohl man es sich eigentlich nicht leisten kann. Die Werbung führt uns fast täglich in Versuchung, irgendetwas zu kaufen. Das ist ihre Aufgabe, damit unsere Wirtschaft floriert.

Doch diese Art der Versuchung hat Jesus wohl nicht gemeint, als er das Unservater formulierte. Die Tatsache, dass dieses Thema in diesem kurzen Gebet aufgeführt ist, besagt, dass es sich um eine zutiefst menschliche Erfahrung handeln muss. Es ist das Leben, das uns täglich in Versuchung führt, damals wie heute. Wenn wir einer Versuchung nachgeben, dann tun wir etwas, das wir eigentlich gar nicht tun wollen, weil es unseren Vorsätzen, unseren Werten widerspricht. Wenn wir also einer Versuchung ausgesetzt sind, dann sind wir im Dilemma zwischen einem momentanen Bedürfnis und einem grundsätzlichen Wert. (Ich will mich gesund ernähren, ich will nicht soviel Geld ausgeben, ich will treu sein, ich will mich ökologisch verhalten, ich will Regeln einhalten usw.) Im Moment der Versuchung sind wir im Zwiespalt zwischen Kopf und Bauch. Der Kopf, also die Vernunft mag hehre Prinzipien haben. Der Bauch, das Gefühl richtet sich nach den momentanen Bedürfnissen z.B. nach Genuss, Anerkennung oder Bequemlichkeit. Geben wir nun unseren innersten Regungen nach oder bleiben wir standhaft und halten uns an unsere Grundsätze? Es kann ein gutes Gefühl sein, einer Versuchung widerstanden zu haben: Ich kann meine innersten Bedürfnisse steuern und meinen Werten treu bleiben. Ich bin nicht willenloses Objekt meiner unbewussten Regungen, sondern kann reflektiert und moralisch handeln. Ich weiss was ich tue und kann auch mal auf etwas verzichten, wenn es sein muss.

Doch wir sollten uns auch nicht selber knechten. Es kann ja auch Spass machen, einer Versuchung nachzugeben. Vor allem dann, wenn es um Kleinigkeiten geht, dürfen wir uns wohl auch mal etwas gönnen. Und wenn es einfach nicht gelingen will, einen guten Vorsatz einzuhalten, dann müssen wir uns fragen, ob der Vorsatz denn wirklich der richtige ist. Kommt er wirklich von mir selber und entspricht meinem Wesen? Tut es mir wirklich gut, dreimal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen, oder ist das etwas, das meinen eigentlichen Bedürfnissen widerspricht? Beim inneren Kampf zwischen Kopf und Bauch dürfen wir uns also auch mal zugunsten des Bauchgefühls entscheiden. Wichtig ist, dass wir eine bewusste Entscheidung treffen. Denn eine Versuchung ist immer eine Entscheidungssituation. In jedem Fall geht es darum, eine Balance zu finden in den täglichen Herausforderungen unseres Lebens.

Zu Zeiten Jesu ging es um anderes als um Fitnessstudios und Sahnetorten. In der Bibel wird die Versuchung häufig auch als Prüfung bezeichnet. Es ging um Einhaltung von Gottes Geboten, um das Standhalten im Glauben, um den Mut zum Bekenntnis. Gerade für eine religiöse Minderheit und in Zeiten von Verfolgung waren dies wichtige Themen. Versuchung bedeutet: Hier entscheidet sich etwas. Es geht um Existenzielles. Bleibe ich meinen Grundsätzen treu? Weiss ich immer was ich tue? Bin ich bereit, auch in schwierigen Situationen für meine tiefsten Überzeugungen einzustehen? Kann Gott und können meine Mitmenschen auch dann auf mich zählen, wenn es hart auf hart kommt? Die Bibel erzählt uns von vielen solchen Situationen. Eine davon ist die Versuchung Jesu in der Wüste. Dass Jesus es geschafft hat, diesen Versuchungen zu widerstehen, hat ihn stark gemacht für seinen Auftrag und schlussendlich auch dafür, für seine Überzeugungen zu sterben.

Die Bitte im Unservater hat ja einen wichtigen Nachsatz: Sondern erlöse uns von dem Bösen. Mit Versuchung sind eigentlich Situationen gemeint, in denen man mit dem Bösen konfrontiert wird. Die Vermeidung des Bösen und die Bewahrung davor, in der Konfrontation mit dem Bösen zu scheitern, das ist das eigentliche Anliegen dieses Satzes.

Ich werde also auch in Zukunft den Satz so beten, wie er uns überliefert wurde. Ungeachtet der Frage, ob nun Gott der Urheber der Versuchungen ist oder nicht. In Respekt vor den Versuchungen des Lebens bete ich gerne: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Krippenspiel

Ansprache bei der Weihnachtsfeier im Altersheim am 21.12.17

Eine Jugendgruppe möchte ein Krippenspiel einstudieren. Die Rollen sind verteilt, Textbuch gibt es keines, es wird spontan gespielt, die Geschichte ist ja allen bekannt. Nun steht die erste Probe an.

Der Bote des Kaisers Augustus erteilt in strengem Ton den Auftrag zur Volkszählung, Maria und Josef ziehen nach Bethlehem, der Wirt weist das Paar ab, seine Herberge sei voll.

Doch mitten im Spiel bricht Peter, der den Wirt spielt ab. „Also eigentlich will ich keinen hartherzigen Wirt spielen, der den armen Leuten die Tür zuknallt. Wenn eine hochschwangere Frau mit ihrem Mann kommt, muss man sie doch hereinlassen. Also ich spiele das jetzt anders. – Kommt nur herein, liebe Leute, ich sehe, die Dame ist in Erwartung und die Nacht ist kalt. Meine Herberge ist zwar voll besetzt, aber ich gebe euch mein Schlafzimmer, ich selber kann ja im Stall übernachten.“ – Da sagt Rolf: „Also in dem Fall möchte ich auch nicht den Boten eines despotischen Kaisers spielen. Ich möchte auch nett zu den Leuten sein. Also: Liebes Volk! Der Kaiser möchte gerne wissen, wie gross sein Volk ist. Darum möchte er euch freundlichst bitten, wenn es euch beliebt, dass jeder in seinen Heimatort gehen soll, um sich dort zählen zu lassen. Kost und Logie sowie die Reisespesen werden selbstverständlich erstattet. Und Familien mit schwangeren Frauen sind natürlich davon ausgenommen. Sie können zuhause bleiben und sich per Internet registrieren lassen.“ „Das gabs doch damals noch gar nicht!“, ruft Heidi dazwischen. – „Ist doch egal, Hauptsache, die heilige Familie hat keine Umstände.“

Da meldet sich Hans, der einen Soldaten des Herodes spielen soll: „ Also dann will ich auch nicht ein Soldat sein, der dem Jesuskind nach dem Leben trachtet. Ich sage einfach: Herodes ist ein gütiger König, der das Jesuskind tatsächlich anbeten will.“ – „Wir spielen eine schönere Weihnachtsgeschichte als die, die in der Bibel steht.“, sagt Heidi. „Allen geht es gut, alle sind nett zueinander, Maria muss nicht hochschwanger nach Bethlehem ziehen und auch nicht in einem Stall gebären, die Hirten müssen sich nicht fürchten, die Soldaten begehen keinen Kindermord, es ist nicht kalt, es ist nicht dunkle Nacht, niemand ist arm. Schliesslich geht es ja um das Jesuskind und um das Volk Gottes. Da wollen wir uns nicht lumpen lassen.“

„Moment!“ ruft da Gaby, die den obersten Engel der himmlischen Heerscharen spielt. „Wenn Maria und Josef nicht nach Bethlehem müssen, wenn Jesus nicht in einem Stall geboren wird, wenn die Hirten nicht arm sind, wenn es keinen despotischen Kaiser Augustus und keinen blutrünstigen Herodes gibt, dann ist die Welt ja bereits perfekt, und dann muss ich ja auch nicht mehr kommen und „Friede auf Erden“ verkündigen. Und die Hirten müssen nicht das Jesuskind suchen gehen, denn sie haben gar keine Sehnsucht nach Frieden und Erlösung. In eine Welt, in der Friede, Freude und Eierkuchen herrschen, muss auch Gott nicht seinen Sohn schicken, um die Welt zu erlösen. Dann ist ja bereits alles in Butter. Dann können wir das Krippenspiel auch gleich ganz bleiben lassen.“

Nun werden alle nachdenklich. „Vielleicht hat es einen guten Grund, warum die Weihnachtsgeschichte genau so erzählt wird, wie wir sie kennen“, sagt Heidi. „Die perfekte Welt, wie wir sie gerne hätten, gibt es nun mal nicht. Es gibt Leid, Gewalt und Armut in der Welt. Es gibt Arme, Obdachlose und Flüchtlinge, einsame und verzweifelte Menschen. Auch heute noch. Und gerade darum ist Jesus in die Welt gekommen. In eine perfekte, paradiesische Welt hätte er nicht kommen müssen. Da hätte es auch nichts zu erlösen gegeben.

„Wartet mal“, sagt Rolf, „Wie steht es im Johannesevangelium? Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen. Genau, es heisst ja auch, Jesus ist das Licht der Welt. Und wo kann man Licht sehen? Klar, nur im Dunkeln. Und beim Propheten Jesaja heisst es: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. In einer Welt, die schon hell ist, braucht es kein Licht, um sie zu erleuchten. Jesus ist in die Welt gekommen, damit wir auch heute noch ein Licht haben, das uns leuchtet, auch wenn es um uns herum manchmal dunkel sein sollte.“

„Genau“, sagt Gaby, „und darum ist es auch wichtig, die Weihnachtsgeschichte so zu spielen, wie sie in der Bibel steht. Jesus ist in unsere Welt gekommen, so wie sie eben ist: in eine dunkle, ungerechte Welt, in der vieles nicht perfekt ist. Nur so konnte seine Botschaft von Frieden und Erlösung wirklich deutlich werden. Nur so konnten die Leute empfänglich werden für Christus und seine Friedensbotschaft.“

„Und das gilt auch für uns“, sagt Hans. „Auch unsere Welt ist noch lange nicht perfekt, auch wenn es uns jetzt besser geht als den Leuten damals. Auch wir sollten seine Botschaft ernst nehmen. Und die wird nur deutlich, wenn wir nichts beschönigen. Also Leute, spielen wir die Weihnachtsgeschichte noch einmal richtig, so wie sie ist.“

Und so spielen sie ihr Krippenspiel: Mit einem despotischen Kaiser Augustus, einer unerbittlichen Volkszählung, einem Wirt, der Maria und Josef die Tür weist, mit armen, verängstigten Hirten in einer dunklen kalten Nacht und einem Engel, der die Botschaft von Frieden und Erlösung in diese unerlöste Welt hineinspricht. Und mit einem grossen, strahlenden Licht, das von der Krippe ausgeht und die ganze Szenerie hell erleuchtet.

Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen.

Vom fröhlichen Geben

Predigt zum Erntedank über 2. Korinther 9, 1-15, gehalten am 22.10.17

 

2017-10-23 16.16.29

2017-10-23 16.17.38(Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)

 

Ein nicht ganz einfacher Text ist das. Paulus benutzt hier, wie es seine Art ist, gewundene Rhetorik, um durch die Blume etwas ganz Bestimmtes zu sagen.

Um die Korinther zu einer grosszügigen Spendenbereitschaft zu bewegen, schwankt Paulus in seinen Formulierungen immer wieder zwischen Lob und Ermahnung. Er lobt die Christen in Korinth für ihren guten Willen, doch es handelt sich vielmehr um ein vorauseilendes Lob, um sie dahin zu bringen, wohin er sie schliesslich haben will. Das Lob ist hier also eher eine versteckte Ermahnung, eine Warnung davor, den Erwartungen nicht zu genügen.

Die angekündigte Sammlung ist für die verarmten Christen in Jerusalem bestimmt, unter denen wohl viele Weggefährten Jesu sind. Diese hatten ja alles aufgegeben, ihre Arbeit und ihre Familien verlassen, um Jesus zu folgen. Die Gemeinde in Korinth, eine reiche Hafenstadt, muss wohl eher wohlhabend gewesen sein, und wurde wahrscheinlich wie viele Gemeinden in Kleinasien von reichen Christen finanziert. Umso wichtiger ist es für Paulus, an ihre Freigiebigkeit zu appellieren. Die Spende soll eine Gabe des Segens sein, nicht eine des Geizes.

Doch Paulus geht es um mehr als nur um materielle Werte. Es gelingt ihm, aus dem Thema Spendenbereitschaft ein Thema des Glaubens zu machen.

Paulus spricht hier nicht von Geldbeträgen, sondern von der Freude am Geben. Und davon, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Geben und Bekommen.

Dazu erst mal eine kleiner Exkurs: Vielleicht haben Sie das auch schon erlebt: Im Einkaufswagen hat jemand den Zweifränkler vergessen herauszunehmen. Oder im Parkautomat liegt noch ein „Zwänzgi“, das jemand vergessen hat. Man findet einen Fünfräppler auf der Strasse liegen. Und obwohl das ja relativ kleine Geldbeträge sind – eigentlich nicht der Rede wert – ist die Freude jeweils gross. Man hat etwas unverhofft geschenkt bekommen! Auch wenn das Geschenk unfreiwillig und völlig zufällig war. Ein solches Ereignis löst Glücksgefühle aus. Darauf basieren auch die Aktionen der Grossverteiler mit Cumulus- und Superpunkten. Auch wenn es sich jeweils nur um winzige Beträge handelt, macht das Sammeln Spass und lässt das Gehirn Glückshormone ausschütten, wie die Hirnforschung herausgefunden hat. Zudem hat ein psychologischer Test Folgendes festgestellt: Wenn man eine Münze auf der Strasse findet, ist die Wahrscheinlichkeit, anschliessend hilfsbereit zu sein, viermal so hoch wie ohne dieses kleine Glückserlebnis. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl, beschenkt zu werden und der Bereitschaft, anderen zu helfen. Wer bekommen hat, ist viel eher bereit, auch wieder etwas zu geben. Vielleicht sollte man hin und wieder einfach ein paar Geldstücke auf die Strasse werfen, die Leute wären dann hilfsbereiter und wir hätten eine bessere Welt!

Genau an diesen Effekt appelliert Paulus bei den Korinthern. Anstatt mit einer Drohung oder mit moralischen Appellen daherzukommen, erinnert er sie daran, wie reich sie selber durch Gott beschenkt wurden. Es soll bei einer Spende nicht darum gehen, Gott zufriedenzustellen. Sondern einfach darum, die eigene Dankbarkeit für all das Gute, dass einem selber beschert worden ist, zum Ausdruck zu bringen. Grosszügigkeit ist also nicht die Bedingung für Gottes Zuwendung und Gnade, sie ist vielmehr Ausdruck von grosser Freude und Dankbarkeit, also eine Folge von Gottes Güte. Insofern ist sie auch eine Glaubenshaltung. Darum ist es auch so wichtig, dass das Geben freiwillig und mit Freude geschieht, unabhängig von der Höhe des Geldbetrages.

So ähnlich ist es auch im Beispiel der armen Witwe im Markusevangelium, die nur 2 Münzen gibt, das aber kommt bei ihr vom Herzen. Die Bereitschaft zu Geben ist also eine Frage der inneren Haltung. Sind wir bereit, etwas zu tun oder zu geben, das bei uns wirklich aus vollem Herzen kommt? Das uns tangiert, ja vielleicht sogar ein bisschen wehtut? Für einen gläubigen Menschen ist das keine Nebensächlichkeit. Das Geben, das Sammeln von Spenden und Kollekten gehört untrennbar zu einem christlichen Gottesdienst. Und da geht es nicht um das Geldscheffeln, wie der Kirche manchmal vorgeworfen wird. Sondern um die Erfüllung eines Gebotes, das in der jüdisch-christlichen Tradition zutiefst verankert ist. Es geht um nichts weniger als um das Erfüllen von Gottes Gerechtigkeit. Gott hat ausgestreut und den Armen gegeben, Gottes Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit, schreibt Paulus. Dies ist immer auch ein Gebot an die menschliche Gerechtigkeit. Das Thema zieht sich durch die Bibel wie ein roter Faden: Von Moses über die Propheten bis hin zu Jesus. Immer wieder heisst es: Brich dem Hungrigen dein Brot! Beherberge den Fremden! Kümmere dich um Witwen und Waisen! Gib dem Obdachlosen Wohnung! Verteile alle 7 Jahre das Land neu, damit alle eine Chance haben. Und Jesus sagt: Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.

Gerechtigkeit ist also nicht einfach eine Frage des guten Willens. Gerechtigkeit ist Gottes Gebot und somit eine massgebliche Frage des Glaubens.

Doch in unserer Zeit gilt immer mehr: Geiz ist Geil. Das hat weniger mit Armut als ganz einfach mit Neid zu tun. Neulich hat eine Untersuchung ergeben, dass das Scheitern der AHV*-Reform zu einem Teil darauf zurückzuführen ist, dass es 70 Franken monatlich mehr gegeben hätte – aber nicht für die jetzige AHV-Generation. Viele Urnengänger werden gedacht haben: Warum sollten die Jüngeren 70 Franken mehr bekommen, ich aber nicht? Sozialneid nennt man das, und der ist in unserer Gesellschaft ziemlich ausgeprägt. Man ist neidisch auf die Reichen, dass sie mehr haben, aber auch auf die Ärmeren, weil sie vielleicht etwas gratis bekommen – Krankenkassenverbilligungen z.B. oder Arbeitslosengeld, oder Sozialhilfe. Unabhängig davon, ob die Anderen bedürftiger sind als man selber, ob sie die Zuwendung dringen benötigen oder nicht. Nun soll sogar noch die ohnehin knappe Sozialhilfe um 10% gekürzt werden, um – so die Begründung – den Anreiz zum Arbeiten zu erhöhen. Als ob alle Sozialhilfeempfänger einfach nur zu faul zum Arbeiten seien. Ich kenne viele Betroffene, die nichts lieber würden, als sich ihr Geld selber zu verdienen, die werden jetzt zusätzlich bestraft.

Solche Ideen kommen von Menschen, die selber genug haben und so selbstgerecht sind, dass sie über Andere urteilen. Das ist genau so, wie wenn die Christen in Korinth damals gesagt hätten: Die Christen in Jerusalem sollen doch gefälligst arbeiten gehen.

Doch Paulus predigt anstatt Neid und Geiz die Grosszügigkeit als eine Glaubenshaltung.

Seine Botschaft ist Folgende: Wir sind von Gott gesegnet und begnadet, wir sind reich beschenkt. Und zwar nicht nur mit Geld und materiellem Reichtum. Wir dürfen als gesegnete Menschen durchs Leben gehen. Alles, was wir haben – seien es materielle Güter, aber auch unsere Begabungen, unsere Zeit, unsere Ideen, unser Engagement und nicht zuletzt auch unsere Freude und unsere Liebe können wir einsetzen, um Gott damit zu dienen, seinem Reich und seiner Gerechtigkeit. Nicht, um Gott damit zu bestechen. Sondern als freier Ausdruck unseres Glaubens, unserer Freude und Dankbarkeit. Und wir haben allen Grund dafür, dankbar zu sein. Dafür, dass wir leben, dass es uns gut geht und dass wir alles haben, was wir brauchen. Bevor wir bereit sind, zu geben, ist es wichtig, dass wir uns bewusst werden, was wir alles in unserem Leben geschenkt bekommen haben. Dann kann unsere Gabe aus vollem Herzen kommen.

Paulus verwendet hier Begriffe aus Saat und Ernte: Die spärlich säen werden auch spärlich ernten. Und die auf Segen hin säen, werden auch Segen ernten. Gott gewährt den Säenden Saatgut und Brot zur Speise und wird so auch euch Saat geben und vermehren und die Früchte eurer Gerechtigkeit wachsen lassen.

Es ist also ein Gottesgeschenk, dass wir frei und fröhlich geben können. Und das ist der eigentliche Sinn von Erntedank: Gott hat uns das Saatgut gegeben. Es ist an uns, was wir damit machen. Wenn wir nicht damit geizen, sondern es grosszügig säen, wird Gott es wachsen lassen, dass es überreiche Frucht und letztlich Segen bringt. Und wenn wir diese Frucht verteilen, kehrt der Dank schliesslich zu Gott zurück und wird uns zum Segen.

Weil wir viel bekommen haben, haben wir auch viel zu geben. Gott als der Ursprung aller Gaben und allen Reichtums wird unsere Gaben überfliessen lassen und zu einem Segen werden lassen, der uns und anderen zugute kommt.

 

*So heisst in der Schweiz die Rentenversicherung.

 

 

 

Versöhnung

Predigt über 1. Mose 25 – 33, gehalten am 27.08.17

In der Bibel finden wir oftmals sehr menschliche Geschichten, die uns erzählen, wie die Menschen damals gelebt und was sie gefühlt haben; wir erfahren von ihren Problemen und Fragen, ihren Glücksmomenten und Schicksalsschlägen; wir lesen von Liebe und Hass, Streit und Versöhnung. Und obwohl diese Geschichten jahrtausendealt sind und in einer ganz anderen Kultur spielen, können die Schicksale dieser Menschen uns berühren. Vieles, was die biblischen Menschen erlebt haben, betrifft uns, weil es um zutiefst existenzielle Themen geht, die auch uns heute noch in gleichem Masse beschäftigen.

Ich möchte Ihnen heute die Geschichte von Jakob und Esau erzählen; es ist die Geschichte zweier ungleicher Brüder. Weil diese Geschichte in der Bibel sehr lang ist, kann ich sie hier nur gekürzt und zusammengefasst wiedergeben. Wer sie zuhause nachlesen möchte, was ich sehr empfehle, findet sie im 1. Buch Mose, in den Kapiteln 25-33.

Jakob und Esau sind die Söhne des Isaak und seiner Frau Rebekka. Obwohl sie Zwillinge sind, sind sie doch sehr verschieden. In der Bibel heisst es über sie:

Esau wurde ein Jäger, der am liebsten in der Steppe umherstreifte. Jakob wurde ein häuslicher, ruhiger Mensch, der bei den Zelten blieb.

Ihr Vater, der gerne Wild aß, hatte eine Vorliebe für Esau; Jakob aber war der Liebling der Mutter.

Weil Esau als erster den Mutterleib verlassen hat, ist er der Erstgeborene, mit allen Rechten: Er soll den Segen des Vaters bekommen und Haupterbe werden. Doch der gerissene Jakob schafft es, seinem Bruder dessen Rechte abzuluchsen: Als Esau einmal hungrig von der Jagd heim kommt, bietet Jakob ihn einen Linseneintopf an – gegen den Preis seines Erstgeburtsrechts. Esau, müde und hungrig, geht in einem unbedachten Moment darauf ein. So verliert er seine Rechte als Erstgeborener an Jakob.

Und als der Vater im Sterben liegt, gelingt es Jakob, sich trickreich den Segen des Vaters zu erschleichen. Mit Hilfe der Mutter gibt er sich dem blinden Vater als Esau aus und lässt sich vom Vater segnen. Der Segen beinhaltet Erfolg, fruchtbare Felder und die Herrschaft über seinen Bruder. Als der Betrug auffliegt, kann der Vater seinen Segen an Jakob nicht mehr rückgängig machen. Für Esau bleibt nur noch ein Ersatz-Segen.

Nun ist es für Esau zuviel des Guten. Er schwört auf Rache und droht, seinen Bruder zu töten. Jakob ergreift die Flucht. Bei seinem Onkel Laban, fern von der Heimat findet er Unterschlupf. Der erschlichene Segen des Vaters zeigt hier seine Wirkung: Alles, was Jakob anpackt, gelingt ihm. Die Arbeit im Auftrag seines Onkels trägt Früchte, die Herden Labans wachsen unter Jakobs Obhut rasch.

20 Jahre später ist Jakob ein reicher Mann mit einer grossen Familie. Er hat – wie damals üblich – zwei Frauen, einige Nebenfrauen, zahl­reiche Knechte und Mägde, 12 Söhne und einige Töchter, dazu grosse Her­den. Nun möchte er nicht mehr länger im Dienst seines Onkels stehen, son­dern sein eigener Herr sein. Darum macht er sich mit seiner gesamten Habe auf, in Richtung Heimat.

Es gibt nur eines, wovor er sich fürchtet: Die Rache sei­nes Bruders.

Während Jakob der Heimat entgegenzieht, bereitet er sich gut auf die Begegnung mit Esau vor. In der Bibel wird das so beschrieben:

Dann sandte Jakob Boten voraus zu seinem Bruder Esau.

Sie sollten Esau, seinem Herrn, ausrichten: »Dein ergebener Diener Jakob läßt dir sagen: ‚Ich bin die ganze Zeit über bei Laban gewesen und komme jetzt zurück.

Ich habe reichen Besitz erworben: Rinder, Esel, Schafe und Ziegen, Sklaven und Sklavinnen. Ich lasse es dir, meinem Herrn, melden und bitte, daß du mich freundlich aufnimmst.’«

Die Boten kamen zurück und berichteten Jakob: »Wir haben deinem Bruder Esau die Botschaft ausgerichtet. Er ist schon auf dem Weg zu dir; vierhundert Mann hat er bei sich.«

Als Jakob das hörte, erschrak er. Er verteilte seine Leute und das Vieh und die Kamele auf zwei Karawanen; denn er dachte: Wenn Esau auf die eine trifft und alles niedermetzelt, wird wenigstens die andere gerettet.

Dann stellt Jakob für seinen Bruder ein Geschenk zusammen, das vor ihm her ziehen soll: 200 Ziegen und 200 Schafe, dazu 20 Ziegenböcke und 20 Schafböcke, 30 Kamelstuten mit ihren Jungen, 40 Kühe, 10 Stiere, 20 Eselinnen und 10 Esel.

Den Hirten trägt er auf, Esau auszurichten: ‚Dein ergebener Diener Jakob kommt gleich hinter uns her.’« Er dachte nämlich: Ich will zurückbleiben und ihn erst mit meinen Geschenken günstig stimmen; vielleicht nimmt er mich dann freundlich auf.

Jakob selbst ging an der Spitze des Zuges und warf sich siebenmal auf die Erde, bis er zu seinem Bruder kam. Esau aber lief ihm entgegen, umarmte und küsste ihn. Beide weinten vor Freude.

Esau möchte das Geschenk, das Jakob ihm macht, zuerst nicht annehmen.

»Lieber Bruder«, sagte Esau, »ich habe selbst genug. Behalte es nur!« – »Nein, nein!« sagte Jakob. »Wenn du mir wieder gut bist, musst du mein Geschenk annehmen. Wie man vor Gott tritt, um Gnade zu finden, so bin ich vor dich getreten, und du hast mich freundlich angesehen. Darum nimm mein Geschenk an! Gott hat mir Glück gegeben, ich bin sehr reich geworden.« Jakob drängte seinen Bruder so lange, bis er alles annahm.

Bald trennen sich die Wege der Brüder wieder, aber sie ziehen weiter als Versöhnte.

Soweit die Geschichte dieser beiden Brüder. Schauen wir sie uns noch einmal an:

2 Brüder sind einander verfeindet. Das können wir wohl zu einem Teil auf ihre Verschiedenheiten zurückführen: Esau ist stark. Er benutzt seine Muskelkraft, um im Leben etwas zu erreichen, Jakob ist körperlich eher schwach, ein häuslicher Typ. Esau hat eine starke Beziehung zum Vater, während Jakob der Liebling der Mutter ist. Es herrscht also ein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Brüdern. Weil Jakob seinem Bruder physisch unterlegen ist, muss er eben mit Cleverness und Köpfchen, ja manchmal auch mit Tricks und nicht ganz sauberen Methoden schauen, dass er zu seinem Recht kommt. So gelingt es ihm, mit Unterstützung der Mutter, seinen Bruder zu überlisten und sich das anzueignen, was eigentlich Esau zukommen sollte.

Esau ist zu Recht wütend auf seinen Bruder. Hat doch der Segen des Vaters an den Bruder ihm all seiner Chancen beraubt. So schwört Esau, seinen Bruder zu töten.

20 Jahre später kommt es zur Konfrontation zwischen den beiden. Jakob weiss, dass er

als der physisch und militärisch Unterlegene gegen seinen Bruder keine Chance hat. Ihm bleibt nur noch die Möglichkeit, durch Unterwürfigkeit Esau gnädig zu stimmen.

Wir könnten vermuten, auch das sei eine List von Jakob. Aber vielleicht hat er in den vergangenen 20 Jahren auch gemerkt, was er seinem Bruder angetan hat. Möglicherweise ist er jetzt reif genug, um seine Untaten ehrlich zu bereuen.

Esau jedenfalls konnte bereits über seinen Schatten springen und seinem Bruder verzeihen.

Die Geschichte von Jakob und Esau ist eine Geschichte von Streit und Versöhnung. Sie ist eine zutiefst menschliche Geschichte, wie sie auch heute in ähnlicher Art immer wieder vorkommen kann.

Sowohl Jakob als auch Esau haben Grösse bewiesen: Jakob, weil er sich nicht scheut, die Überlegenheit Esaus anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. Esau, weil er die Grösse hat, auf Rache zu verzichten. Nach über 20 Jahren kann er offenbar sagen „Schwamm drüber“.

Beide erkennen nun im Anderen nicht mehr den Gegner, sondern den Bruder. Blut ist dicker als Wasser, und die Zeit hat die Wunden geheilt.

Was lernen wir aus dieser Geschichte?

Wenn Menschen verschieden sind und vor allem auch ungleich behandelt werden, führt das häufig zu Konkurrenz, Neid und Missgunst. Menschen werden durch solche Gefühle entzweit. Dies kann auch bewirken, dass die Unterlegenen unfaire Methoden anwenden, um zu ihrem Recht zu kommen. Dies führt zu Hass und Feindschaft.

Um Vergebung zu bitten und um vergeben zu können braucht es innere Grösse, Standfestigkeit, Mut und auch eine Portion Demut. Es bedeutet, nicht auf sein Recht, auf seinen Standpunkt zu beharren. Und es bedeutet auch: Verletzungen und Zorn über erlittenes Unrecht beiseite stellen zu können, über seinen eigenen Schatten zu springen und sich nicht ewig in das zu verbeissen, was man früher einmal erlitten hat. Denn auch wenn der Zorn verständliche Gründe hat, nimmt er uns etwas von unserer Menschlichkeit. In einem Gedicht von Berthold Brecht heisst es: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge, auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.

Wenn wir hingegen vergeben können, gewinnen wir dadurch wieder etwas von unserem menschlichen Angesicht zurück.

Vergebung ist ja auch ein theologisches Thema. Im Unservater beten wir: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Das heisst: Wenn wir bereit sind zur Vergebung, dann können auch wir selber erwarten, dass uns vergeben wird.

Und bei Gott ist es noch besser: Im Evangelium erfahren wir, dass Gott uns bereits im Voraus vergeben hat, bevor wir selber jemandem vergeben oder um Vergebung bitten können.

Gottes Liebe und Barmherzigkeit lassen uns zu Menschen werden, die frei sind, anderen vergeben zu können. So können wir zu einer echten Versöhnung kommen und einen Beitrag leisten zu einer friedlicheren Welt.

Der 100. Name Gottes oder: Ich bin, der ich bin

Diese Predigt wurde anlässlich der Trauung eines christlich-muslimischen Paares gehalten am 17. Juni 2017.

«Er ist Gott, ausser dem es keinen Gott gibt, der über das Unsichtbare und das Offenbare Bescheid weiss.

Er ist der Erbarmer, der Barmherzige. Er ist Gott, ausser dem es keinen Gott gibt, der König, der Heilige, der Inbegriff des Friedens, der Stifter der Sicherheit, der alles fest in der Hand hat, der Mächtige, der Gewaltige, der Stolze, Preis sei Gott!

Er ist erhaben über das, was sie ihm beigesellen. Er ist Gott, der Schöpfer, der Erschaffer, der Bildner. Sein sind die schönsten Namen. Ihn preist, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Und Er ist der Mächtige, der Weise.»                                                                         Koransure 59, 22–24

 Liebe X, lieber Y, liebe Hochzeitsgemeinde!

„Sein sind die schönsten Namen“, heisst es in der Koran-Sure, die ich gerade gelesen habe. Und nach einem Hadith sagt der Prophet Mohammed: „Wahrlich, Gott hat neunundneunzig Namen, einen weniger als hundert. Wer sie aufzählt, geht ins Paradies.“

Darum sagt man im Islam, Gott habe 99 Namen. Es sind die Namen Gottes, die im Koran vorkommen. Jeder dieser Namen steht für eine Eigenschaft Gottes. Ein frommer Muslim sollte diese 99 Namen möglichst auswendig lernen, um sie immer wieder aufzählen zu können.

Ich zähle hier nur einige der Gottesnamen auf: Da wäre z.B. ar-Rahim: der Barmherzige; as-Salam: der Frieden. Al-Haliq: Der Schöpfer. Al-Gaffar: der Verzeiher. Al-Rauuf: Der Gnädige. Al-Hakim: Der Weise. An-Nur: Das Licht. Al-Wadud: Der Liebevolle, der alles mit seiner Liebe umfassende.

Man spricht auch von einem hundertsten Namen Gottes. Doch der ist unaussprechbar und den Menschen unbekannt. Er steht für das Grosse, Unbegreifliche an Gott, sein wahres Wesen, das wir als Menschen niemals ganz zu fassen vermögen. Mit den 99 Namen versuchen wir Gott so gut wie möglich zu umschreiben. Wie Gott wirklich ist, werden wir aber niemals ganz begreifen und somit auch nicht aussprechen können.

Im Christentum ist es im Prinzip ganz ähnlich. Auch in der Bibel gibt es zahlreiche Beschreibungen und Eigenschaften für Gott. So wird Gott bezeichnet als der Gnädige, der Barmherzige, der Vergebende, der Liebende, der Grosse, der Allmächtige, der Schöpfer, der Erlöser und vieles mehr. Es gibt auch Vergleiche, mit denen Gott beschrieben wird: So heisst es z.B., Gott sei wie ein Adler, unter dessen Flügel wir Schatten finden, oder wie ein starker Fels, auf den wir bauen können, wie eine tröstende Mutter oder wie ein gütiger Vater – so hat Jesus ihn ja auch bezeichnet.

Doch auch hier gilt: Das eigentliche Wesen Gottes ist für uns unaussprechlich. Es gibt keinen Namen für Gott, der ihn vollständig beschreiben könnte.

Als Gott sich dem Mose in einem brennenden Dornbusch offenbart, fragt Mose: Wie ist dein Name? Gott antwortet: Ich bin, der ich bin.

Er sagt nicht: Ich bin dieser oder jener, ich habe diese und jene Eigenschaften. Sondern Gott ist so, wie er ist. Alles ist in ihm enthalten. Für mich ist dieses „Ich bin der ich bin“ so etwas Ähnliches wie der 100. Name Gottes im Islam: Er beschreibt die Unmöglichkeit, Gott vollständig zu erfassen und mit Worten zu benennen.

Ich denke, sowohl als Christen wie als Muslime ist unsere Aufgabe, dem 100. Namen, dem „Ich bin, der ich bin“ so nah wie möglich zu kommen. Nicht, um ihn in einem Wort zu beschreiben. Sondern zu spüren, zu erfahren, wie Gott ist. Wenn wir mit dieser Frage nach Gott unterwegs sind, dann können wir – vielleicht auch nur ein kleines Stück weit – begreifen, was das „Ich bin, der ich bin“, der 100. Name Gottes bedeuten könnte.

Liebe X lieber Y, ihr beiden seid als Paar damit auf einem gemeinsamen Weg. Wenn ihr Gottes Wahrheit sucht und ihr immer näher kommt, dann ist es zweitrangig, ob dies innerhalb des christlichen oder des islamischen Glaubens geschieht. Die jeweilige Religion ist nur ein Weg, der einem grösseren Ziel dient. Dieses Ziel ist euer gemeinsames.

So wie mit Gott ist es auch mit der Liebe. Auch sie kann man nicht in einem einzigen Begriff treffend erklären. Auch für sie gibt es viele Umschreibungen, auch für sie gibt es viele Namen. Ich möchte euch jetzt einen Bibeltext vorlesen aus dem 1. Korintherbrief:

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. 3 Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.

4 Die Liebe ist geduldig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. 5 Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. 6 Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. 7 Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. 8 Die Liebe hört niemals auf.

13 Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe. (1. Kor. 13, 1-8, 13 Einheitsübersetzung)

Hier werden viele Eigenschaften der Liebe aufgelistet. Doch diese Eigenschaften sind nicht einfach von selber da. Sie wollen gelebt werden, und zwar von uns Menschen. Wenn der Text also sagt: Die Liebe ist geduldig und gütig, dann bedeutet das eigentlich: Ein Mensch, der liebt, ist geduldig und gütig. Liebe zeigt sich vor allem an dem, was wir tun und wie wir uns verhalten. Das heisst: Die Liebe will erfüllt und gelebt werden. Liebe ist also etwas sehr aktives, nicht nur etwas, das wir empfinden, sondern eben auch etwas, das wir tun. Gerade für das Zusammenleben in einer Ehe genügt es nicht, nur ein schönes Gefühl füreinander zu haben. Liebe bedeutet, über dieses Gefühl hinaus, die Eigenschaften der Liebe jeden Tag neu miteinander und füreinander zu leben. Wenn ihr nachher einander die Ehe versprecht, ist dies das Versprechen, dass ihr euch bemühen wollt, all das, was Liebe ist und was Liebe sein kann, zu erfüllen.

Die Worte aus dem 1. Korintherbrief sind dabei so etwas wie eine Anleitung zum Lieben. Sie wollen uns dabei helfen, die Liebe wirklich zu leben, und zwar so, dass sie ein ganzes Leben lang anhält.

Lieben heisst also: Geduldig und gütig sein, sich nicht ereifern, nicht prahlen, sich nicht aufblähen. Nicht ungehörig handeln, nicht den eigenen Vorteil suchen, sich nicht zum Zorn reizen lassen, nicht nachtragend sein, sich nicht über das Unrecht freuen, sondern sich an der Wahrheit freuen. Lieben heisst: alles ertragen, alles glauben, alles hoffen, allem standhalten.

Lieben heisst schlussendlich, daran zu glauben, dass die Liebe niemals aufhört. Lieben heisst, dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe im Leben einen grossen Platz einzuräumen.

Und in eurem Fall heisst Liebe sicher auch ganz besonders, Verschiedenheiten zu akzeptieren und zu tolerieren, einander zu vertrauen und Raum zu geben, aufeinander achtzugeben und einander zu unterstützen gerade auch in schwierigen Zeiten.

Genauso wie es darum geht, Gottes 100. Namen, dem „Ich bin der ich bin“ immer näher zu kommen, so geht es auch darum, sich dem Namen der Liebe immer mehr anzunähern.

Liebe X, lieber Y, ich bin fest davon überzeugt, dass ihr beide diesen Weg gemeinsam gehen könnt: Den Weg Gottes und den Weg der Liebe. So wie Gott in euer beider Leben seinen Platz hat, so hat auch die Liebe bei euch gemeinsam ihren Platz. Das ist es, was euch verbindet, das Band, das euch zusammenhält über alle Schwierigkeiten und Verschiedenheiten hinweg. Gott und die Liebe sind die Grössen, die euch durch euer gemeinsames Leben leiten werden. Auch wenn Gott viele Namen, und für euch manchmal auch verschiedene Namen haben mag, vergesst nicht:

Gott ist die Liebe, Gott ist al-Wadud. Das ist es, was euch zusammenhalten wird, an jedem Tag eures gemeinsamen Lebens. Amen.

 

 

Predigt zum Welt-Autismus-Tag

Diese Predigt wurde am 2. April 2017 gehalten. Vorher hat im Gottesdienst ein junger Mann über sein Leben und Empfinden als Autist gesprochen.

Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteilbaren Organismus. So ist es auch mit Christus: mit der Gemeinde, die sein Leib ist. Denn wir alle, Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie, sind in der Taufe durch denselben Geist in den einen Leib, in Christus, eingegliedert und auch alle mit demselben Geist erfüllt worden.

Ein Körper besteht nicht aus einem einzigen Teil, sondern aus vielen Teilen. Wenn der Fuß erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin« – hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein? Oder wenn das Ohr erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht das Auge bin« – hört es damit auf, ein Teil des Körpers zu sein? Wie könnte ein Mensch hören, wenn er nur aus Augen bestünde? Wie könnte er riechen, wenn er nur aus Ohren bestünde?

Nun aber hat Gott im Körper viele Teile geschaffen und hat jedem Teil seinen Platz zugewiesen, so wie er es gewollt hat. Wenn alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib? Aber nun gibt es viele Teile, und alle gehören zu dem einen Leib.

Das Auge kann nicht zur Hand sagen: »Ich brauche dich nicht!« Und der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: »Ich brauche euch nicht!« Gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.

Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt und hat dafür gesorgt, dass die geringeren Teile besonders geehrt werden. Denn er wollte, dass es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert. Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.

Ihr alle seid zusammen der Leib von Christus, und als Einzelne seid ihr Teile an diesem Leib.  

(1. Korinther 12, 12 – 22, 24a – 27)

Die christliche Gemeinde wird hier mit einem menschlichen Körper verglichen. Ein Körper besteht aus vielen Teilen. Jeder Teil des Körpers ist wichtig und erfüllt seine ganz besonderen Funktionen. Das Auge kann sehen, das Ohr kann hören, die Hand kann greifen, der Fuss kann laufen und so weiter.

Trotz ihrer Verschiedenheit gehören diese Teile doch alle zusammen. Kein Teil kann für sich isoliert existieren. Sie alle zusammen ergeben den lebendigen Organismus, aus dem der Mensch besteht.

Natürlich gibt es auch Menschen, denen etwas fehlt. Auch sie sind selbstverständlich ganze Menschen. Sie haben einfach gelernt, ihre Sinne und Organe anders einzusetzen. Ein Mensch, der keine Hände hat, macht einfach viele Verrichtungen mit den Füssen. Ein Mensch, der blind ist, hat ein feineres Gehör und einen besonders ausgeprägten Tastsinn, mit dem er z.B. lesen kann.

Autistische Menschen haben, wie wir gehört haben, eine andere Wahrnehmung, z.B. was menschliche Gesichter betrifft. Es fällt ihnen schwerer als anderen, aus einem Gesichtsausdruck den Gefühlszustand des Gegenübers abzulesen. Stattdessen haben sie oftmals ausgeprägtere Fähigkeiten auf anderen Gebieten, weil sie sich sehr akribisch auf ein ganz bestimmtes Thema konzentrieren können. Der Autist Daniel Tammet z.B. ist in der Lage, die Zahl Pi bis zu 22 000 Stellen hinter dem Komma auswendig aufzusagen. Andere können das Luftbild einer Stadt aus dem Gedächtnis aufzeichnen. Andere wiederum können sich an jeden Tag ihres Lebens bis ins letzte Detail genau erinnern. Solche Fähigkeiten nehmen das Hirn eines Menschen natürlich sehr in Anspruch, sodass für andere Tätigkeiten weniger Konzentration übrig ist.

Eigentlich trifft das ja auf jeden Menschen zu. Niemand ist in allen Bereichen gleich begabt. Es gibt Menschen, die können gut rechnen, dafür sind sie vielleicht weniger gut in Sprachen. Einige sind musikalisch, dafür z.B. weniger sportlich. Es gibt Menschen mit einem Flair für Theorie und Wissenschaft und es gibt Menschen mit grossen handwerklichen Begabungen. Und natürlich gibt es auch Multitalente, die viele Fähigkeiten gleichzeitig haben.

Was aber allen gemeinsam ist: Alle Menschen sind verschieden. Es gibt niemals zwei Menschen, die miteinander völlig identisch sind, auch nicht eineiige Zwillinge. Jeder Mensch hat seine eigenen Eigenschaften, Interessen, Begabungen und eben auch Schwächen. Und das ist gut so. Was wäre das für eine Welt, in der alle Menschen gleich wären, genau die gleichen Begabungen und auch die gleichen Defizite hätten? Unsere Welt wäre nicht so vielseitig, nicht so bunt und sicher auch nicht so fortschrittlich, wie sie es jetzt ist. Erst mit unseren Verschiedenartigkeiten bilden wir eine lebendige, vielseitige Gemeinschaft, in der wir miteinander leben und voneinander lernen können. Das kann eine Kirchgemeinde sein, eine Firma, eine Gesellschaft, aber auch auf die globale Gemeinschaft der Menschheitsfamilie kann das zutreffen.

Problematisch wird es erst dann, wenn wir anfangen, die verschiedenen Anlagen und Fähigkeiten zu werten. Wenn wir z.B. sagen: Sportlich sein ist besser als musikalisch sein. Rechnen können ist besser als sprachbegabt sein. Wissenschaft ist besser als Handwerk. Die übliche Art, Gesichter wahrzunehmen ist besser als die autistische Wahrnehmung.

Doch unsere Gesellschaft ist nicht ganz wertfrei, viele Vorgänge werden nach gewissen Normen bewertet. Wenn z.B. ein Autist uns beim Gespräch nicht in die Augen schaut, sind wir irritiert oder empfinden dies gar als unhöflich. Warum eigentlich? Weil wir es so gewohnt sind, weil es offiziell als anständig gilt, dass „man“ dies tut. Doch das Leben wäre für Autisten so viel einfacher, wenn es akzeptiert würde, dass es Menschen gibt, denen das schwer fällt, und dass dies nicht aus Unhöflichkeit geschieht. Es bräuchte einfach nur eine Anpassungsleistung unsererseits, anstatt zu erwarten, dass sich Autisten vollständig unserer Welt anpassen müssten.

Und das gilt nicht nur in Bezug auf Autisten. Es geht generell um Menschen, die irgendwie anders sind als die grosse Masse, die andere Fähigkeiten haben, anders ticken, vielleicht auch eine andere Herkunft haben oder mit anderen Voraussetzungen geboren wurden und die nicht so ganz in das Schema unserer Gesellschaft passen. Wir können doch eigentlich alle voneinander lernen, und so können z.B. Autisten unser Herz sein, dort, wo wir vor allem Kopf sind.

Unsere Gesellschaft sollte sich daran messen lassen, ob wir fähig sind, solche Menschen in unserer Mitte aufzunehmen, sie zu akzeptieren wie sie sind und ihnen einen Platz zu geben, an dem sie ihre Fähigkeiten einsetzen können. Die Frage ist, ob es uns gelingt, unsere Welt ein Stück weit so einzurichten, dass auch diese Menschen sich darin wohlfühlen können.

Wenn wir das schaffen, dann kann unsere Gesellschaft sein wie ein Puzzle, das aus verschiedenen Teilen besteht, aber nur als Ganzes ein richtiges Bild ergibt. Oder wie der menschliche Körper, der eben nicht nur aus Augen oder aus Händen besteht, sondern aus den vielfältigsten Teilen, die nur im Zusammenwirken den ganzen Menschen ergeben. Nur so können wir zu einer friedlichen, sozialen Gemeinschaft werden, in der alle Menschen gleichwertig in ihrer Würde geachtet werden und sich je nach ihren Anlagen und Eigenheiten einbringen können.

Das Bild vom menschlichen Körper erzählt uns, wie wir alle zusammengehören, wie wir im Zusammenwirken einen Leib bilden, der als Ganzes funktioniert, ohne dass alle genau gleich sein müssen. Ein Leib, in dem wir einander annehmen in den verschiedenen Spielarten des Menschseins und das Schwere wie das Schöne miteinander teilen, wie Paulus es so schön sagt: Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.

Wir alle gehören zusammen. Wir dürfen verschieden sein. Wir können uns ergänzen, voneinander lernen, einander unterstützen, miteinander leben und feiern. Auf diese Art können wir einander annehmen, so wie Christus uns angenommen hat.

Wer ist dieser?

Predigt am 19.02.17/12.03.17

Und es begab sich, als Jesus allein war und betete und nur seine Jünger bei ihm waren, da fragte er sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; einige aber, du seist Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes! Er aber gebot ihnen, dass sie das niemandem sagen sollten.  (Lk. 9, 18 – 21)

„Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“, fragt Jesus seine Jünger. – Für wen halten mich die Leute? – Was glauben die Leute, wer ich bin?

Jesus weiss, dass viel über ihn geredet wird, und zwar nicht nur darüber, was er tut, sondern vor allem auch darüber, wer er wohl sei.

Denn Jesus gibt Rätsel auf. Die Leute haben schon gemerkt, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist. Seine Worte berühren die Menschen, wühlen sie auf, scheiden auch oftmals die Geister. Seine Taten zeugen von einer besonderen Vollmacht. Er vollbringt Wunder, er kann Kranke heilen,vermehrt Speisen, stillt den Sturmwind, weckt sogar Tote auf. Er masst sich an, Sünden zu vergeben, bricht mit Tabus, indem er sich mit Sündern an einen Tisch setzt, kritisiert religiöse Autoritätspersonen, und scheut sich nicht, auch das Sabbatgebot zu brechen. Er kann sich liebevoll den Menschen zuwenden, aber auch wütend werden und harte Worte gebrauchen. Und er scheint eine ganz besondere Beziehung zu Gott zu haben, nennt ihn liebevoll „Abba“, also Papa.

Es ist allen klar: Jesus ist kein Mensch wie alle anderen. Aber wer ist er? So werden sich wohl viele Leute damals gefragt haben, die Jesus begegnet sind oder auch nur von ihm gehört haben. Die Evangelien bezeugen uns, dass die Menschen oft zueinander gesagt haben: Wer ist dieser, dass er Kranke heilen kann? Dass er Sündern vergibt? Dass sogar Wind und Sturm ihm gehorchen? Nach jedem Wunder, das die Menschen miterleben, taucht diese Frage auf, sie scheint förmlich über den Köpfen zu schweben: Wer ist dieser? Was ist das für ein Mensch? Jesus scheint in kein Schema zu passen, kein Deutungsversuch vermag das Phänomen Jesus von Nazareth abschliessend und befriedigend zu erklären.

So behelfen sich die Leute mit Figuren aus der Vergangenheit. Es war damals ein verbreiteter Glaube, dass besondere Personen, wie z.B. Propheten, eines Tages wiederkommen und in allenfalls anderer Gestalt ihr Werk fortsetzen würden. So wartete man auf ein Wiedererscheinen des berühmten Propheten Elia oder auf einen der anderen Propheten. Ein Erklärungsversuch der Leute ist es also, zu sagen, Jesus sei der wiedererschienene Elia, Johannes der Täufer oder ein anderer Prophet aus der Vergangenheit. Doch man merkt, dass diese Vermutungen nicht ganz greifen, dass Jesus eben doch grösser und anders ist als die bekannten Figuren. Jesus bringt Neues in die Welt, noch nie Dagewesenes. Die Vergleiche mit früheren Personen sind eher hilflose Versuche, die Person Jesus zu erklären.

In den Evangelien kursieren viele Titel, mit denen Jesus belegt wird. Sich selber nennt Jesus an einigen Stellen den „Menschensohn“, dies ist ein Begriff aus dem Alten Testament, und die Bedeutung dieses Titels liegt bis heute im Dunkeln. Oftmals wird Jesus auch als König bezeichnet und im gleichen Atemzug als „Sohn Davids“, wie z.B. bei seinem Einzug in Jerusalem.

Nur an einem Ort fragt man sich nicht, wer Jesus sei: Nämlich dort, wo man ihn bereits kennt, in Nazareth, seiner Heimatstadt. Hier meint man zu wissen, wer Jesus ist: Das ist doch der Sohn vom Zimmermann Josef, der unter uns aufgewachsen ist, den haben wir doch als Kind schon gekannt! – Man kann in diesem bekannten Menschen nichts Besonderes entdecken. Es fehlt schlicht die Distanz, um in Jesus mehr zu sehen als den gewöhnlichen Menschen aus der Nachbarschaft. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, sagt Jesus dazu und kehrt seiner Heimatstadt den Rücken.

Doch sonst überall stellt sich immer wieder die Frage: Wer ist Jesus? Ein besonderer Prophet? Ein Wunderheiler? Die Wiedergeburt eines früheren Propheten? Oder gar ein Quacksalber oder ein Volksverführer?

Viel wird gerätselt und spekuliert, doch niemand findet eine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Jesus weiss das, und so fragt er selber seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich sei? Auch die Jünger können ihm nur die Vermutungen und Spekulationen der Leute wiedergeben. Und dann fragt Jesus sie selber: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Nun kommt die Antwort des Petrus: Du bist der Christus Gottes, d.h. der Gesalbte, auf Hebräisch: Der Messias. Petrus scheint es erfasst zu haben. Doch Jesus gebietet ihnen, nicht darüber zu sprechen. Warum das so ist, ist bis heute ein Rätsel. Vielleicht will sich Jesus nicht festlegen lassen. Vielleicht will er gerade, dass die Menschen rätseln und spekulieren; dass ihnen nicht eine fertige Antwort vorgesetzt wird, sondern dass sie selber, jeder für sich auf der Suche sein sollen nach einer Antwort auf die Frage: Wer ist Jesus?

Wer ist Jesus? – Das fragen sich viele Menschen auch heute noch. Und auch wenn wir sagen: Er ist der Christus, der Sohn Gottes, dann stellt sich immer noch die Frage: Was bedeutet das? Und vor allem: Wie können wir das heute verstehen?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus, das bedeutet, dass wir uns fragen sollen: Wer ist Jesus Christus für mich? Denn jenseits aller kursierenden Jesusbilder geht es darum, ein persönliches Verhältnis zu finden zu Jesus als die zentrale Figur des christlichen Glaubens.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich diese Frage zu beantworten.

Für die einen ist Jesus ein moralisches Vorbild. Sein Eintreten für die Armen und Schwachen, seine klaren Worte gegen Heuchelei und Ungerechtigkeiten sind beeindruckend. Seine Worte zugunsten von Feindesliebe, Frieden und Gewaltlosigkeit zielen auf ein friedliches und soziales Zusammenleben der Menschen. Seine Bereitschaft, für uns auch durch Leiden und Tod zu gehen ist vorbildlich. In der Nachfolge nehmen Christen seine Werte an, versuchen, in den Spuren Jesu zu wandeln und damit zu helfen, eine bessere Welt zu schaffen.

Für andere ist Jesus vor allem ein religiöser Erneuerer. Seine harten Worte gegen die Pharisäer, seine Tabubrüche und gezielten Gesetzesübertretungen dienen als Kritik auch heutiger allzu starrer religiöser Strukturen und motivieren dazu, die Kirche immer wieder zu reformieren und zu erneuern.

Für viele Christen ist Jesus wichtig in einer persönlichen Beziehung, wie zu einem Bruder oder Freund. Im regelmässigen Gebet und Gottesdienst pflegen sie eine Verbindung zu ihm; sie fühlen sich von Jesus durch ihren Alltag und ihr Leben begleitet, vertrauen ihm ihre Sorgen und Nöte an und fühlen sich von ihm persönlich angenommen auch in ihrer Sündhaftigkeit.

Für andere wiederum ist Jesus vor allem der Christus, der Erlöser und Heiland, der Auferstandene, der zur Rechten Gottes sitzt. Als Herr über die Lebenden und die Toten wird hier vor allem seine Göttlichkeit betont. Jesu Erlösungswerk durch seinen Tod und seine Auferstehung ist für diese Menschen Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens. Ihre Verehrung dient dem auferstandenen Christus; er dient ihnen als Quelle einer Hoffnung, die auch über den Tod hinausgeht.

Nicht wenige Menschen in heutiger Zeit hadern auch mit diesem Jesus. Einigen ist er zu abgehoben, zu undurchsichtig, zu unbegreiflich, zu weich, zu revolutionär, zu links, zu fremd, zu fern, zu moralisch, zu menschlich oder zu göttlich. An Jesus scheiden sich auch heute noch die Geister, und viele Menschen fragen genauso wie in biblischen Zeiten: Wer ist dieser? Was kann ich mit ihm anfangen, wie kann ich seine Worte und Handlungen verstehen, was soll ich von ihm halten, welchen Platz kann er in meinem Leben einnehmen, kann ich überhaupt an ihn glauben und wenn ja in welcher Weise?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus auch uns als getaufte Christinnen und Christen. Der möglichen Antworten gibt es viele, und sie werden sich im Laufe des Lebens verändern. Es ist eine Frage, mit der wir unser Leben lang unterwegs sein können; je nach Lebensabschnitt und Lebenssituation können wieder andere Antworten aktuell werden.

Doch schlussendlich lässt sich diese Frage nur von innen heraus beantworten, nicht als blosse, abgehobene Theorie, sondern für jeden Menschen ganz persönlich.

Wie auch immer unser persönliches Jesusbild sein mag, wichtig ist, dass wir darin etwas von Gott erkennen. „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“, so heisst es im Kolosserbrief*. In Jesus hat sich gezeigt, wie Gott ist. So ist unser Verhältnis zu Jesus gleichzeitig ein Verhältnis zu Gott. Das zu begreifen kann nur von innen geschehen.

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“ Jesus stellt auch uns diese Frage und lässt sie offen. Beantworten können nur wir sie selber.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit dieser Frage weiterhin auf dem Weg sind und immer wieder ihre eigenen persönlichen Antworten finden, und vor allem, dass Sie in ihrem Fragen nach Jesus schliesslich Gott finden mögen.

*Kol 2,9

Von Splittern und Balken

Predigt am 21.01.17/29.01.17

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.

Was sieht du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken in deinem Auge aber nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen, und dabei ist in deinem Auge der Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge. Dann wirst du klar sehen um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. (Mt. 7, 1 – 5)

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Harte Worte sind das, die Jesus da sagt. Hier ist nichts von Einladung, von Liebe oder Vergebung zu hören. Im Gegenteil, es handelt sich hier um eine Ermahnung.

Ein mahnender Jesus, passt das ins Bild? Hätten wir nicht lieber einen sanften und liebevollen Jesus, wie er so häufig verkündigt wird?

Ich behaupte: Das ist kein Widerspruch! Jesus war nicht immer nur sanft und lieb. Er konnte auch Klartext reden, Missstände beim Namen nennen. Das gehörte zu Jesu Verkündigung, zu seiner Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen, zu seiner Vision vom Reich Gottes.

Jesus konfrontiert uns in dieser Rede mit uns selber und will uns auf einen Weg führen, mit unseren Mitmenschen und mit unserem eigenen Ich anders umzugehen. Das dient seinem Ziel, die Welt dem Reich Gottes ein Stück näher zu bringen.

Es ist wichtig, diese Worte in ihrem Zusammenhang zu sehen. Dieser Text ist ein Teil der Bergpredigt, an dessen Anfang die Seligpreisungen stehen, die ich zu Beginn dieses Gottesdienstes gelesen habe. Die Seligpreisungen sind ein Zuspruch, also wie eine Art Balsam auf die Seele. Danach kommen verschiedene Ausführungen zu einem gottgefälligen Leben: Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, seinem Mitmenschen nicht fluchen, nicht schwören, nicht vergelten, seine Feinde lieben, seine Frömmigkeit nicht zur Schau stellen, sich nicht sorgen und wie gesagt: nicht richten.

Der Zuspruch der Bergpredigt beinhaltet auch einen Anspruch an die Menschen. Sie sollen mit ihrem Verhalten sich des Zuspruches würdig erweisen. Wichtig ist: Das Verhalten ist keine Bedingung, sondern eine Folge davon, dass man Gottes Liebe erfahren hat. Der Mensch, der sich von Gott angesprochen und geliebt weiss, kann sich in seinem Lebenswandel dementsprechend verhalten. Zuerst kommt also der Zuspruch, danach erst der Anspruch an das Verhalten.

Es ist kein geringer Anspruch, den Jesus da an seine Hörer stellt  – und damit auch an uns.

Schauen wir einmal genauer hin, was Jesus da in seiner Rede fordert: Richtet nicht! Er meint hier nicht das Richten von professionellen Richtern, sondern das Urteilen eines jeden Menschen über seine Mitmenschen. Und das ist etwas, das tagtäglich geschieht. Z.B. beim üblichen Klatsch und Tratsch werden nicht nur Gerüchte in Umlauf gebracht, sondern es wird gerichtet, Urteile werden gefällt über gutes und böses, richtiges und falsches Verhalten der Anderen. Es bedeutet, zu werten, die Menschen zu bewerten, nicht nur aufgrund ihres Tuns, sondern oftmals auch aufgrund ihrer Lebensweise, Äusserlichkeiten, Nationalität, Alter usw. Man sucht gerne nach dem Haar in der Suppe beim Anderen, hofft mit Schadenfreude, dass bei ihm Fehler und Schwächen zutage treten. Und weil wir es ja besser wissen, können wir uns über die Fehlbaren erheben und uns ihnen überlegen fühlen. (Ich sage jetzt bewusst „Wir“, denn ich denke, kein Mensch ist vor einer solchen Haltung ganz gefeit).Wenn ich mit dem Finger auf die Fehler anderer zeigen kann, muss ich mich nicht mit meinen eigenen Fehlern auseinandersetzen. Darum ist das Klatschen und Tratschen, das Gerüchte streuen, das Urteilen und das Richten so eine beliebte Tätigkeit. Rufmordkampagnen, das an den Pranger stellen einzelner oder auch Mobbing können einen Menschen ruinieren. Aber auch das alltägliche Werten im kleinen Kreis gehört dazu.

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus!  Wer über andere urteilt, lässt sich ein auf das grosse Spiel, den Kreislauf von Klatsch und Tratsch, von Besserwisserei und des sich über andere Erhebens. Wer über andere richtet, verhält sich  respektlos und anmassend und begegnet dem Nächsten nicht auf Augenhöhe. Er selber stellt sich als besser hin. Kein Wunder, dass da zurückgegeben wird, dass man sich dann auch selber dem Beurteilt-Werden aussetzt. Wer über andere richtet, muss damit rechnen, dass die gleichen Massstäbe an ihn selber angelegt werden. Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden, sagt Jesus. Der Bibeltext geht davon aus, dass kein Mensch besser ist als der andere und dass niemand das Recht hat, sich über einen anderen zu erheben. Er weiss, dass alle Menschen irgendwie in Schuld verstrickt sind. Er rechnet damit, dass das Böse, das ein Mensch aussendet, schlussendlich zu ihm zurückkehrt.

Die Rede vom Splitter und vom Balken im Auge ist ein Bild, das mit der Übertreibung spielt. Natürlich kann kein Mensch einen Balken im Auge haben. Aber es ist sicher kein Zufall, dass es hier um das Auge geht. Wer über andere urteilt, mag im Anderen etwas entdeckt haben. Doch gleichzeitig ist er blind gegenüber seinen eigenen Fehlern. Sein Blick ist verstellt. Und das Schlimme daran ist: Er merkt es nicht einmal. Er hat nur einen Blick für die Fehler des Anderen. Psychologisch ausgedrückt können wir sagen: Ein solcher Mensch hat eine eingeschränkte Selbstwahrnehmung.

Denn jeder Mensch hat eine verborgene Seite an sich, einen sogenannten Schatten. Das ist die Seite an uns, die wir nicht so gerne anschauen und auch anderen Menschen nicht zeigen wollen, weil sie nicht unserem eigenen Selbstbild entspricht, weil sie unsere Fehler und Schwächen beinhaltet, also etwas, das wir an uns selber ablehnen. Es ist eine Seite, die wir am liebsten verstecken oder leugnen, auch vor uns selber.

Wer seinen Schatten verdrängt, neigt dazu, seine eigenen Fehler zu verneinen und auf die anderen zu projizieren. Um mit Jesus zu sprechen: Den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht, sondern nur im Form eines Splitters im Auge des Anderen, den wir dann scharf verurteilen, denn es ist ja anscheinend nicht unser eigener Splitter. Wir können uns von ihm abgrenzen, indem wir mit dem Finger auf andere zeigen, indem wir anderen die Schuld geben für sämtliche Missstände in der Welt.

Es  geht also darum, den Balken in unserem eigenen Auge zu erkennen, uns damit auseinanderzusetzen, bevor wir uns um den vermeintlichen Splitter im Auge des anderen kümmern können. Oftmals wird dieser dann bedeutungslos.

Und jetzt kommt etwas ganz Wichtiges: Wenn wir uns mit unserem eigenen Balken auseinandersetzen, also mit unserem Schatten, der unsere Fehler und Schwächen, vielleicht auch unsere bösen Seiten beinhaltet, dann sollten wir ihn nicht bekämpfen, nicht ausmerzen wollen. Wir sollten ihn erst einmal genau anschauen und dann liebevoll annehmen! Ja, auch wenn es seltsam klingt: diesem Teil von uns sollen wir mit genau so viel Liebe begegnen wie Jesus den Sündern begegnet ist. Er hat ihre Sünde nicht gutgeheissen, aber er hat sie in Liebe angenommen. Und genau das sollten wir auch mit unserem Schatten machen, denn er ist ein Teil von uns. Wir sollten uns selber nicht ablehnen, auch nicht Teile von uns. Wenn wir unseren Schatten liebevoll annehmen können, dann wird er für uns sichtbar, und dann kann er sich auch verwandeln. Wenn wir unsere abgelehnten Seiten akzeptieren, können wir den Balken aus unserem Auge entfernen. Und erst dann sehen wir klar und können uns um die Schatten der Anderen kümmern. Wenn wir unseren eigenen Fehlern mit Barmherzigkeit, Geduld und Toleranz begegnen, dann können wir auch barmherzig, geduldig und tolerant mit den Fehlern anderer umgehen. Das Herausziehen des Splitters aus dem Auge des Anderen ist dann nicht als Zurechtweisung zu verstehen, sondern vielmehr als Hilfe. Aus der Erfahrung heraus, dass auch wir unsere Schattenseiten haben, können wir den Anderen helfen, auch ihre Schattenseiten anzunehmen. Das ist etwas ganz anderes, als über sie zu richten und zu urteilen.

Mit der Aufforderung „Richtet nicht!“ wollte Jesus nicht einfach einer Laxheit und einer falschen Toleranz Vorschub leisten. Ihm schwebte vielmehr eine vorurteilsfreie Gemeinschaft vor, in der alle Menschen so angenommen werden wie sie sind, mit all den Seiten, die zu ihnen gehören, ohne Verdrängung, Heuchelei oder Überheblichkeit. Jesus wollte Menschen, die zu sich selber stehen können auch mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wenn wir versuchen, diesen Weg einzuschlagen im Umgang mit uns selber und mit den Anderen, dann sind wir dem Reich Gottes ein Stück näher gekommen.