Zum Thema Sünde

Predigt am 29.05.16

Röm. 6, 12 – 23

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Dieser Titel eines Liedes von Zarah Leander kommt wohl vielen Menschen in den Sinn, wenn es um den Begriff Sünde geht. Mir ging es jedenfalls so, als ich überlegte, wo der Begriff Sünde in unserer Alltagssprache überall verwendet wird.

Das Wort Sünde ist in aller Munde, auch in der heutigen säkularisierten Welt.

Da ist z.B. die Rede vom Verkehrssünder, dem Steuersünder oder dem Abfallsünder; man spricht von den Bausünden oder den Jugendsünden. Die Verwendung des Begriffes „Sünde“ drückt oftmals eine Verharmlosung aus. Die Jugendsünden z.B. sind kleine Dummheiten, Streiche oder Verfehlungen, die mit jugendlichem Leichtsinn oder Übermut entschuldigt werden können. Als Jugendsünden bezeichnet man aber auch Dinge, die man früher getan hat und mit denen man sich im reiferen Alter nicht mehr identifizieren kann. Abfallsünder sind Leute, die Abfall einfach liegen lassen, Steuersünder sind Leute, die Steuern hinterziehen, Verkehrssünder haben die Verkehrsregeln missachtet. Es sind meistens die kleinen Vergehen, die nach landläufiger Meinung jedem passieren können, für die man im Allgemeinen sogar Verständnis aufbringt. Wirklich kriminelle Handlungen werden nicht mehr als Sünde bezeichnet. Bei den Steuersündern stellt sich allerdings die Frage, ab welchem Betrag man eigentlich eher von Vergehen sprechen sollte als in verharmlosender Weise von „Sünden“.

Der Begriff Sünde kommt in unserem Alltagsleben aber auch häufig im Zusammenhang mit der Ernährung vor: Man hat gesündigt, weil man der Sahnetorte nicht widerstehen konnte, obwohl man doch eigentlich abnehmen will. Sünden sind im heutigen Sprachgebrauch häufig kleine Laster, von denen man eben nicht lassen kann.

Die Sünde hat sich also in unserer Alltagssprache gehalten, obwohl wir in einer weitgehend nicht-religiösen Gesellschaft leben. In der heutigen Zeit ist die Sünde also eher etwas, das man belächelt, anstatt dass man Angst oder Respekt vor diesem Begriff hat.

Im rein kirchlichen Kontext ist das anders. Hier versteht man unter Sünde ein Vergehen, ein Fehlverhalten, eine moralisch verwerfliche Tat, eine Übertretung von Gottes Geboten.

Als Moses die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste führte, gab er ihnen die 10 Gebote, um diesen losen Haufen von Menschen zu einem Volk mit verbindlichen Regeln zu vereinen. Ein Übertreten der Regeln störte das Zusammenleben des Volkes, was zu einer Gefährdung der ganzen Gemeinschaft führen konnte. Daher war es besonders wichtig, dass die Regeln und Gebote eingehalten wurden; die Übertretung derselben galt als ein schlimmes Vergehen. Und weil Gott als Urheber der 10 Gebote galt, war der Verstoss dagegen auch ein Vergehen gegen Gott.

In neutestamentlicher Zeit wurde der Begriff Sünde von der Gesellschaft vor allem mit Zöllnern und Prostituierten in Verbindung gebracht. Von den Zöllnern wurde behauptet, sie würden beim Geldeintreiben in die eigene Tasche wirtschaften. Doch das eigentlich Schlimme war, dass sie mit den Römern, der verhassten Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Sie galten also als Verräter am eigenen Volk. Die Prostituierten standen für eine entfesselte, ungezügelte Sexualität. Die Männer, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, wurden hingegen nicht als Sünder bezeichnet.

Auch später im Verlauf der Kirchgengeschichte wurde der Sündenbegriff häufig im Zusammenhang mit dem Thema Sexualität verwendet – und dies bis heute. Die kirchliche Sexualmoral brachte jahrhundertelang neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle hervor. Der erhobene Zeigefinger der Kleriker schüchterte viele Menschen ein und verhinderte oftmals ein gesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht sowie auch zum eigenen Körper. Bei dieser Fixierung auf das Thema Sexualität ging und geht auch heute noch häufig der Blick auf die eigentliche Bedeutung des Sündenbegriffes verloren.

Doch es ist wichtig, dass wir als moderne Menschen ein neues Verständnis vom Begriff Sünde bekommen, jenseits der moralisierenden wie auch der verharmlosenden Bedeutung.

Was also bedeutet der Begriff Sünde eigentlich? Das deutsche Wort Sünde kommt ursprünglich von Sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Ein Sund trennt z.B. eine Insel vom Festland.

In der Theologie wird Sünde häufig als ein Getrenntsein von Gott bezeichnet. Die sogenannte Sündenfallgeschichte am Anfang der Bibel beschriebt dies sehr gut: Die ersten Menschen im Garten Eden assen verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Sie hielten sich nicht an die Regeln, die Gott ihnen auferlegt hatte. Damit hatten sie das Recht verwirkt, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und wurden aus dem Garten Eden vertrieben. Die ganze weitere biblische Geschichte beschreibt diese wechselvolle Geschichte zwischen Gott und den Menschen, die von der Trennung gekennzeichnet ist.

Interessant ist auch die griechische Bezeichnung für Sünde. Das griechische Wort „Hamartia“ bedeutet wörtlich „Zielverfehlung“, es stammt ursprünglich aus dem Bogenschiessen. Sündigen heisst in diesem Sinne also so viel wie daneben treffen. Man hat vielleicht das richtige Ziel anvisiert, ist aber nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es auch wirklich zu erreichen.

Wir können sagen: Sünde als Trennung und als Zielverfehlung verhindert, dass die Liebe Gottes, also die Energie des Lebens, frei fliessen und uns wirklich erreichen kann. Sünden sind hier nicht einzelne Übertretungen, sondern Haltungen, die uns daran hindern, unser Potenzial wirklich auszuschöpfen und das wahre Leben, das für uns bestimmt ist, auch wirklich zu leben. Oftmals errichten wir uns selber Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens abschneiden. Das können z.B. irrationale Ängste sein, ein mangelndes Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten, die Unfähigkeit, unsere Mitmenschen anzunehmen, mangelnder Mut, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, ein unverrückbares Verharren auf die eigenen Positionen oder ein Fixiertsein auf Erfolg und materiellen Besitz. Einzelne Übertretungen können aus diesen Haltungen resultieren, die Wurzel der Sünde liegt aber anderswo. Sie besteht im Versuch, das Leben mit untauglichen Mitteln zu bewältigen. Sünden sind also Mogelpackungen, sie versprechen etwas, das sie nicht halten können. Es sind Grundhaltungen, die uns von Gott, unseren Mitmenschen und von uns selbst trennen und dazu führen können, dass wir unser eigentliches Leben verfehlen können so wie ein Bogenschütze das Ziel.

Die katholische Theologie entwarf einen Katalog der 7 Todsünden: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Masslosigkeit und Unkeuschheit. Heute würde man diesen Katalog für den modernen Menschen vielleicht etwas anders formulieren. Vor allem der Begriff „Todsünde“ wirkt sehr bedrohlich. Dass der Tod der Sünde Sold sein soll, ist eigentlich seit Jesus Christus überholt. In Jesus Christus hat Gott uns unsere Liebe erwiesen, und das bedeutet die Vergebung der Sünden. Das und nichts anderes ist die Botschaft des Evangeliums. Die Sünde führt nicht automatisch zum Tod. Es gibt einen Ausweg aus dem sündigen Leben. Natürlich gehören zur Vergebung Einsicht, Busse und Umkehr. Doch das Schöne ist: Die Vergebung kommt zuerst! Weil wir die Vergebung erfahren haben, werden wir fähig zur Umkehr und frei, dem Guten zu dienen. Wie es im Römerbrief heisst: Wir sind nicht länger Knechte der Sünde, sondern sind nun befreit dazu, Gott und der Gerechtigkeit zu dienen.

Wie dies konkret aussehen kann, zeigen uns Auflistungen der Tugenden als Gegenpole zu den Sünden. Der Galaterbrief listet die sogenannten „Früchte des Geistes“ auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut. In der kirchlichen Kunst werden die vier Kardinaltugenden des Aristoteles Gerechtigkeit, Klugheit, Mässigung und Tapferkeit ergänzt mit den drei biblischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es gilt also, zu unseren sündigen Grundhaltungen die entsprechenden Gegenhaltungen, also die Tugenden zu entwickeln. Das und nichts anderes bedeutet Umkehr. Es setzt voraus, dass wir uns unserer sündigen Haltungen bewusst sind und dass wir eine Umkehr – also eine Befreiung davon – wirklich bewusst wollen. Ich betone nochmal, dass dies nicht eine Voraussetzung zur Vergebung ist, sondern eine Folge davon.

Wir dürfen uns also als Menschen verstehen, welche die Vergebung bereits erfahren haben. Dann werden wir frei, unserer Sündigkeit ins Gesicht zu schauen und können uns auf dem Weg machen, uns befreien zu lassen zum Dienst am Guten.