Was ist der Mensch?

 

Predigt am 16.09.18

Gott, wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:  Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (Ps. 8, 4-5)

„Was ist der Mensch?“

Eine schwierige Frage. Man kann dieses Thema von verschiedenen Seiten her angehen. Wir können den Menschen betrachten aus biologischer Sicht: Wie ist der Körper des Menschen aufgebaut und wie funktioniert er? Oder psychologisch: Wie funktioniert die Seele des Menschen? Was geht in seinem Inneren vor? Oder evolutionsbiologisch: Der Mensch hat sich aus dem Affen entwickelt. Wie hat ihn das geprägt? Historisch: Man untersucht den Verlauf der Menschheitsgeschichte. Kulturhistorisch: Welche verschiedenen Kulturen gibt es, wie haben sich diese entwickelt? Soziologisch: Man untersucht das Verhalten der Menschen untereinander.

Das sind nur einige Beispiele, wie man sich der Frage: Was ist der Mensch? annäheren kann. Alle Zugänge haben ihre Richtigkeit, alle betrachten den Menschen aus einer bestimmten Perspektive heraus. Will man eine umfassende Antwort auf diese Frage finden, muss man möglichst alle Perspektiven auf den Menschen berücksichtigen. Uns interessiert heute in diesem Gottesdienst natürlich vor allem der biblische Zugang zu dieser Frage: Welche Antworten liefert die Bibel? Welches Menschenbild vertritt die jüdisch-christliche Tradition?

So werfen wir einmal einen Blick in die Bibel, und zwar dorthin, wo von den Anfängen, der Schöpfung des Menschen gesprochen wird. Es gibt ja zwei Schöpfungsberichte, die verschieden über die Erschaffung des Menschen erzählen. Im ersten Schöpfungsbericht hört sich das so an:

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei…Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (Gen. 1, 27)

Im zweiten Schöpfungsbericht heisst es: Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. (Gen. 2,7)

Was sagen uns diese beiden Verse zur Frage: Was ist der Mensch?

Der zweite, ältere Schöpfungsbericht sieht das so: Der Mensch ist aus Erde gemacht, d.h. er ist ein Teil der Erde. „Du bist Erde und wirst zu Erde werden“, heisst es an späterer Stelle. Der Name Adam kommt vom Wort Adamah, und das heisst Erdboden.

Doch der Mensch ist nicht nur Materie, er ist mehr als das. Nachdem Gott den Menschen aus Erde geformt hat, bläst er ihm seinen Atem in die Nase. Erst so kann der Mensch ein lebendiges Wesen werden.

Im anderen Schöpfungsbericht wird das nicht so plastisch beschreiben, es heisst da nur: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, als Wesen, das ihm gleich ist.

Was bedeutet das nun für das Menschenbild? Erstens: Wir tragen Gottes Atem in uns; das, was uns lebendig macht, kommt direkt von Gott. Ein Teil von Gott ist ständig in uns und erhält uns am Leben. Zweitens: Wir sind Gottes Ebenbilder, wir sind Gott gleich.

Und diese Feststellung gilt für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Herkunft, Religion, Kultur, Fähigkeiten, moralischem Verhalten, Weltanschauung, Entwicklungsstand, Veranlagungen und Lebenssituation. Alle Menschen sind gleich, jeder Mensch, der auf dieser Erde lebt ist Gottes Ebenbild.

Von diesem Gedanken sind auch die Menschenrechte abgeleitet, die von dem Grundsatz ausgehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Begriff der Menschenwürde und die Gottebenbildlichkeit sind eigentlich das gleiche, einmal weltlich und einmal religiös ausgedrückt.

Bevor wir den Gedanken weiterspinnen, schauen wir doch auch noch ins Neue Testament.

Jesus hat den Gedanken eingeführt, dass Gott unser Vater ist. Das bedeutet nichts anderes als: Wir sind Gottes Kinder, Gottes Töchter und Söhne. Im 1. Johannesbrief heisst es:

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!

Wir sind also nicht nur Gottes Ebenbilder, wir sind seine Töchter und Söhne. Das bedeutet, dass wir Anteile von Gott in uns tragen. So wie ein Mensch die Gene seiner leiblichen Eltern in sich trägt, so haben wir Teile von Gott in uns. Man könnte auch sagen: Einen göttlichen Funken oder einen göttlichen Kern. Es bedeutet nichts anderes als: Gott ist in uns. Tief in uns drin sind wir Gott. Wir Menschen sind göttlich. Und zwar alle.

Das ist ein schöner, aber auch ein schwieriger Gedanke. Wenn ich mir manche Menschen so ansehe, fällt es mir schwer, zu akzeptieren, dass wirklich alle göttlich sein sollen. Ich denke z.B. an die Menschen, die gegen Flüchtlinge demonstrieren und dabei rufen: „Lasst sie ersaufen“. Oder auch nur, wenn ich Kommentare in den sozialen Medien lese, die andere Menschen aufs unflätigste weit unter der Gürtellinie angreifen und diffamieren.

Solches Verhalten ist ganz und gar nicht göttlich. Es ist auch nicht menschlich, sondern zutiefst unmenschlich. Es fällt uns schwer, sich vorzustellen, dass auch Menschen, die sich unmenschlich verhalten, einen göttlichen Kern in sich tragen sollen.

Dagegen ist es einfacher, schnelle Urteile zu fällen. „Das Monster“ ist eine oft gesehene Schlagzeile, wenn jemand ein besonders grausames Verbrachen begangen hat. Der Mörder von Rupperswil, der 4 Personen grausam umgebracht hat. Oder der Vater, der seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies gesperrt hat, sie immer wieder vergewaltigte und die daraus gezeugten Kinder ebenfalls im Verlies aufwachsen liess. Solche Taten sind grauenhafte Verbrechen, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Und doch müssen wir sagen: Auch diese Menschen sind keine Monster. Es sind Menschen wie du und ich. Menschen, die wie alle anderen auch einen göttlichen Teil in sich tragen, auch wenn wir Mühe haben, uns das vorzustellen. Und wenn wir das konsequent weiterdenken: Also auch ein Hitler, ein Stalin, ein Bin Ladin, Menschen die schreckliches Unheil angerichtet haben, sind und bleiben Menschen, auch wenn sie abgrundtief böse Taten begangen haben. Es ist schwer für uns, das zu akzeptieren. Viel einfacher ist es, jemanden als Monster abzutun, der nichts Menschliches und erst recht nichts Göttliches an sich hat. Wir trennen solche Menschen damit von uns ab und müssen uns nicht mehr damit auseinandersetzen, dass es Menschen gibt, die zu bösem fähig sind, ja, dass eigentlich jeder Mensch je nach Situation zum Bösen fähig ist. Wir können dann einfach behaupten, dass diese Taten mit uns schlicht nichts zu tun haben, denn die Täter waren ja keine Menschen.

Doch nicht jeder Mensch ist ein Schwerverbrecher. Grundsätzlich gilt es, zwischen dem Menschen an sich und seinem Verhalten zu unterscheiden. Wir können die Taten eines Menschen verurteilen, ohne jedoch seine Menschlichkeit, also auch Gottebenbildlichkeit anzuzweifeln. Denn Gottes Ebenbild zu sein bedeutet eben nicht automatisch, ein perfekter und moralisch untadeliger Mensch zu sein. Das wissen wir alle.

Denn der göttliche Kern ist nicht einfach offensichtlich. Er ist oftmals verschüttet und tief verborgen hinter einer dicken Schicht, die wir uns im alltäglichen Leben angeeignet haben, einer Kruste aus Gewohnheiten, Neid, Unsicherheit, Hochmut, Neurosen und Egozentrik. Doch der innerste göttliche Kern bleibt. Und wenn wir diesen in jedem Menschen zumindest vermuten, dann kann es uns vielleicht gelingen, den Anderen anzunehmen wie er/sie ist, auch mit den Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten, mit allen Unterschieden und dem, was uns voneinander trennt.

Und auch mich selber kann ich besser annehmen, wenn ich den göttlichen Kern in mir selber sehen kann. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – das bedeutet nichts anderes, als im Nächsten und in sich selber den göttlichen Anteil wahrzunehmen und zu würdigen.

Denn manchmal gibt es Momente, in denen das Göttliche durchschimmert, in denen wir etwas erahnen können vom Göttlichen im Anderen und in uns selber. Wenn Begegnungen und menschliches Miteinander gelingen, wenn wir menschlich aneinander handeln, wenn wir vergeben können, wenn Versöhnung möglich wird, wenn wir den Anderen trotz seines Andersseins oder seiner Schuld als Mensch sehen und behandeln können, wenn wir unsere eigene Göttlichkeit spüren und die unseres Gegenübers aufleuchten lassen können. Dann sind wir in der Liebe. Und die Liebe kommt von Gott; Gott selber ist die Liebe.

So schliesse ich mit den Worten aus dem 1. Johannesbrief: Gott ist die Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.

 

Wer ist dieser?

Predigt am 19.02.17/12.03.17

Und es begab sich, als Jesus allein war und betete und nur seine Jünger bei ihm waren, da fragte er sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; einige aber, du seist Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes! Er aber gebot ihnen, dass sie das niemandem sagen sollten.  (Lk. 9, 18 – 21)

„Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“, fragt Jesus seine Jünger. – Für wen halten mich die Leute? – Was glauben die Leute, wer ich bin?

Jesus weiss, dass viel über ihn geredet wird, und zwar nicht nur darüber, was er tut, sondern vor allem auch darüber, wer er wohl sei.

Denn Jesus gibt Rätsel auf. Die Leute haben schon gemerkt, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist. Seine Worte berühren die Menschen, wühlen sie auf, scheiden auch oftmals die Geister. Seine Taten zeugen von einer besonderen Vollmacht. Er vollbringt Wunder, er kann Kranke heilen,vermehrt Speisen, stillt den Sturmwind, weckt sogar Tote auf. Er masst sich an, Sünden zu vergeben, bricht mit Tabus, indem er sich mit Sündern an einen Tisch setzt, kritisiert religiöse Autoritätspersonen, und scheut sich nicht, auch das Sabbatgebot zu brechen. Er kann sich liebevoll den Menschen zuwenden, aber auch wütend werden und harte Worte gebrauchen. Und er scheint eine ganz besondere Beziehung zu Gott zu haben, nennt ihn liebevoll „Abba“, also Papa.

Es ist allen klar: Jesus ist kein Mensch wie alle anderen. Aber wer ist er? So werden sich wohl viele Leute damals gefragt haben, die Jesus begegnet sind oder auch nur von ihm gehört haben. Die Evangelien bezeugen uns, dass die Menschen oft zueinander gesagt haben: Wer ist dieser, dass er Kranke heilen kann? Dass er Sündern vergibt? Dass sogar Wind und Sturm ihm gehorchen? Nach jedem Wunder, das die Menschen miterleben, taucht diese Frage auf, sie scheint förmlich über den Köpfen zu schweben: Wer ist dieser? Was ist das für ein Mensch? Jesus scheint in kein Schema zu passen, kein Deutungsversuch vermag das Phänomen Jesus von Nazareth abschliessend und befriedigend zu erklären.

So behelfen sich die Leute mit Figuren aus der Vergangenheit. Es war damals ein verbreiteter Glaube, dass besondere Personen, wie z.B. Propheten, eines Tages wiederkommen und in allenfalls anderer Gestalt ihr Werk fortsetzen würden. So wartete man auf ein Wiedererscheinen des berühmten Propheten Elia oder auf einen der anderen Propheten. Ein Erklärungsversuch der Leute ist es also, zu sagen, Jesus sei der wiedererschienene Elia, Johannes der Täufer oder ein anderer Prophet aus der Vergangenheit. Doch man merkt, dass diese Vermutungen nicht ganz greifen, dass Jesus eben doch grösser und anders ist als die bekannten Figuren. Jesus bringt Neues in die Welt, noch nie Dagewesenes. Die Vergleiche mit früheren Personen sind eher hilflose Versuche, die Person Jesus zu erklären.

In den Evangelien kursieren viele Titel, mit denen Jesus belegt wird. Sich selber nennt Jesus an einigen Stellen den „Menschensohn“, dies ist ein Begriff aus dem Alten Testament, und die Bedeutung dieses Titels liegt bis heute im Dunkeln. Oftmals wird Jesus auch als König bezeichnet und im gleichen Atemzug als „Sohn Davids“, wie z.B. bei seinem Einzug in Jerusalem.

Nur an einem Ort fragt man sich nicht, wer Jesus sei: Nämlich dort, wo man ihn bereits kennt, in Nazareth, seiner Heimatstadt. Hier meint man zu wissen, wer Jesus ist: Das ist doch der Sohn vom Zimmermann Josef, der unter uns aufgewachsen ist, den haben wir doch als Kind schon gekannt! – Man kann in diesem bekannten Menschen nichts Besonderes entdecken. Es fehlt schlicht die Distanz, um in Jesus mehr zu sehen als den gewöhnlichen Menschen aus der Nachbarschaft. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, sagt Jesus dazu und kehrt seiner Heimatstadt den Rücken.

Doch sonst überall stellt sich immer wieder die Frage: Wer ist Jesus? Ein besonderer Prophet? Ein Wunderheiler? Die Wiedergeburt eines früheren Propheten? Oder gar ein Quacksalber oder ein Volksverführer?

Viel wird gerätselt und spekuliert, doch niemand findet eine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Jesus weiss das, und so fragt er selber seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich sei? Auch die Jünger können ihm nur die Vermutungen und Spekulationen der Leute wiedergeben. Und dann fragt Jesus sie selber: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Nun kommt die Antwort des Petrus: Du bist der Christus Gottes, d.h. der Gesalbte, auf Hebräisch: Der Messias. Petrus scheint es erfasst zu haben. Doch Jesus gebietet ihnen, nicht darüber zu sprechen. Warum das so ist, ist bis heute ein Rätsel. Vielleicht will sich Jesus nicht festlegen lassen. Vielleicht will er gerade, dass die Menschen rätseln und spekulieren; dass ihnen nicht eine fertige Antwort vorgesetzt wird, sondern dass sie selber, jeder für sich auf der Suche sein sollen nach einer Antwort auf die Frage: Wer ist Jesus?

Wer ist Jesus? – Das fragen sich viele Menschen auch heute noch. Und auch wenn wir sagen: Er ist der Christus, der Sohn Gottes, dann stellt sich immer noch die Frage: Was bedeutet das? Und vor allem: Wie können wir das heute verstehen?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus, das bedeutet, dass wir uns fragen sollen: Wer ist Jesus Christus für mich? Denn jenseits aller kursierenden Jesusbilder geht es darum, ein persönliches Verhältnis zu finden zu Jesus als die zentrale Figur des christlichen Glaubens.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich diese Frage zu beantworten.

Für die einen ist Jesus ein moralisches Vorbild. Sein Eintreten für die Armen und Schwachen, seine klaren Worte gegen Heuchelei und Ungerechtigkeiten sind beeindruckend. Seine Worte zugunsten von Feindesliebe, Frieden und Gewaltlosigkeit zielen auf ein friedliches und soziales Zusammenleben der Menschen. Seine Bereitschaft, für uns auch durch Leiden und Tod zu gehen ist vorbildlich. In der Nachfolge nehmen Christen seine Werte an, versuchen, in den Spuren Jesu zu wandeln und damit zu helfen, eine bessere Welt zu schaffen.

Für andere ist Jesus vor allem ein religiöser Erneuerer. Seine harten Worte gegen die Pharisäer, seine Tabubrüche und gezielten Gesetzesübertretungen dienen als Kritik auch heutiger allzu starrer religiöser Strukturen und motivieren dazu, die Kirche immer wieder zu reformieren und zu erneuern.

Für viele Christen ist Jesus wichtig in einer persönlichen Beziehung, wie zu einem Bruder oder Freund. Im regelmässigen Gebet und Gottesdienst pflegen sie eine Verbindung zu ihm; sie fühlen sich von Jesus durch ihren Alltag und ihr Leben begleitet, vertrauen ihm ihre Sorgen und Nöte an und fühlen sich von ihm persönlich angenommen auch in ihrer Sündhaftigkeit.

Für andere wiederum ist Jesus vor allem der Christus, der Erlöser und Heiland, der Auferstandene, der zur Rechten Gottes sitzt. Als Herr über die Lebenden und die Toten wird hier vor allem seine Göttlichkeit betont. Jesu Erlösungswerk durch seinen Tod und seine Auferstehung ist für diese Menschen Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens. Ihre Verehrung dient dem auferstandenen Christus; er dient ihnen als Quelle einer Hoffnung, die auch über den Tod hinausgeht.

Nicht wenige Menschen in heutiger Zeit hadern auch mit diesem Jesus. Einigen ist er zu abgehoben, zu undurchsichtig, zu unbegreiflich, zu weich, zu revolutionär, zu links, zu fremd, zu fern, zu moralisch, zu menschlich oder zu göttlich. An Jesus scheiden sich auch heute noch die Geister, und viele Menschen fragen genauso wie in biblischen Zeiten: Wer ist dieser? Was kann ich mit ihm anfangen, wie kann ich seine Worte und Handlungen verstehen, was soll ich von ihm halten, welchen Platz kann er in meinem Leben einnehmen, kann ich überhaupt an ihn glauben und wenn ja in welcher Weise?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus auch uns als getaufte Christinnen und Christen. Der möglichen Antworten gibt es viele, und sie werden sich im Laufe des Lebens verändern. Es ist eine Frage, mit der wir unser Leben lang unterwegs sein können; je nach Lebensabschnitt und Lebenssituation können wieder andere Antworten aktuell werden.

Doch schlussendlich lässt sich diese Frage nur von innen heraus beantworten, nicht als blosse, abgehobene Theorie, sondern für jeden Menschen ganz persönlich.

Wie auch immer unser persönliches Jesusbild sein mag, wichtig ist, dass wir darin etwas von Gott erkennen. „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“, so heisst es im Kolosserbrief*. In Jesus hat sich gezeigt, wie Gott ist. So ist unser Verhältnis zu Jesus gleichzeitig ein Verhältnis zu Gott. Das zu begreifen kann nur von innen geschehen.

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“ Jesus stellt auch uns diese Frage und lässt sie offen. Beantworten können nur wir sie selber.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit dieser Frage weiterhin auf dem Weg sind und immer wieder ihre eigenen persönlichen Antworten finden, und vor allem, dass Sie in ihrem Fragen nach Jesus schliesslich Gott finden mögen.

*Kol 2,9

Zum Thema Sünde

Predigt am 29.05.16

Röm. 6, 12 – 23

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Dieser Titel eines Liedes von Zarah Leander kommt wohl vielen Menschen in den Sinn, wenn es um den Begriff Sünde geht. Mir ging es jedenfalls so, als ich überlegte, wo der Begriff Sünde in unserer Alltagssprache überall verwendet wird.

Das Wort Sünde ist in aller Munde, auch in der heutigen säkularisierten Welt.

Da ist z.B. die Rede vom Verkehrssünder, dem Steuersünder oder dem Abfallsünder; man spricht von den Bausünden oder den Jugendsünden. Die Verwendung des Begriffes „Sünde“ drückt oftmals eine Verharmlosung aus. Die Jugendsünden z.B. sind kleine Dummheiten, Streiche oder Verfehlungen, die mit jugendlichem Leichtsinn oder Übermut entschuldigt werden können. Als Jugendsünden bezeichnet man aber auch Dinge, die man früher getan hat und mit denen man sich im reiferen Alter nicht mehr identifizieren kann. Abfallsünder sind Leute, die Abfall einfach liegen lassen, Steuersünder sind Leute, die Steuern hinterziehen, Verkehrssünder haben die Verkehrsregeln missachtet. Es sind meistens die kleinen Vergehen, die nach landläufiger Meinung jedem passieren können, für die man im Allgemeinen sogar Verständnis aufbringt. Wirklich kriminelle Handlungen werden nicht mehr als Sünde bezeichnet. Bei den Steuersündern stellt sich allerdings die Frage, ab welchem Betrag man eigentlich eher von Vergehen sprechen sollte als in verharmlosender Weise von „Sünden“.

Der Begriff Sünde kommt in unserem Alltagsleben aber auch häufig im Zusammenhang mit der Ernährung vor: Man hat gesündigt, weil man der Sahnetorte nicht widerstehen konnte, obwohl man doch eigentlich abnehmen will. Sünden sind im heutigen Sprachgebrauch häufig kleine Laster, von denen man eben nicht lassen kann.

Die Sünde hat sich also in unserer Alltagssprache gehalten, obwohl wir in einer weitgehend nicht-religiösen Gesellschaft leben. In der heutigen Zeit ist die Sünde also eher etwas, das man belächelt, anstatt dass man Angst oder Respekt vor diesem Begriff hat.

Im rein kirchlichen Kontext ist das anders. Hier versteht man unter Sünde ein Vergehen, ein Fehlverhalten, eine moralisch verwerfliche Tat, eine Übertretung von Gottes Geboten.

Als Moses die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste führte, gab er ihnen die 10 Gebote, um diesen losen Haufen von Menschen zu einem Volk mit verbindlichen Regeln zu vereinen. Ein Übertreten der Regeln störte das Zusammenleben des Volkes, was zu einer Gefährdung der ganzen Gemeinschaft führen konnte. Daher war es besonders wichtig, dass die Regeln und Gebote eingehalten wurden; die Übertretung derselben galt als ein schlimmes Vergehen. Und weil Gott als Urheber der 10 Gebote galt, war der Verstoss dagegen auch ein Vergehen gegen Gott.

In neutestamentlicher Zeit wurde der Begriff Sünde von der Gesellschaft vor allem mit Zöllnern und Prostituierten in Verbindung gebracht. Von den Zöllnern wurde behauptet, sie würden beim Geldeintreiben in die eigene Tasche wirtschaften. Doch das eigentlich Schlimme war, dass sie mit den Römern, der verhassten Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Sie galten also als Verräter am eigenen Volk. Die Prostituierten standen für eine entfesselte, ungezügelte Sexualität. Die Männer, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, wurden hingegen nicht als Sünder bezeichnet.

Auch später im Verlauf der Kirchgengeschichte wurde der Sündenbegriff häufig im Zusammenhang mit dem Thema Sexualität verwendet – und dies bis heute. Die kirchliche Sexualmoral brachte jahrhundertelang neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle hervor. Der erhobene Zeigefinger der Kleriker schüchterte viele Menschen ein und verhinderte oftmals ein gesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht sowie auch zum eigenen Körper. Bei dieser Fixierung auf das Thema Sexualität ging und geht auch heute noch häufig der Blick auf die eigentliche Bedeutung des Sündenbegriffes verloren.

Doch es ist wichtig, dass wir als moderne Menschen ein neues Verständnis vom Begriff Sünde bekommen, jenseits der moralisierenden wie auch der verharmlosenden Bedeutung.

Was also bedeutet der Begriff Sünde eigentlich? Das deutsche Wort Sünde kommt ursprünglich von Sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Ein Sund trennt z.B. eine Insel vom Festland.

In der Theologie wird Sünde häufig als ein Getrenntsein von Gott bezeichnet. Die sogenannte Sündenfallgeschichte am Anfang der Bibel beschriebt dies sehr gut: Die ersten Menschen im Garten Eden assen verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Sie hielten sich nicht an die Regeln, die Gott ihnen auferlegt hatte. Damit hatten sie das Recht verwirkt, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und wurden aus dem Garten Eden vertrieben. Die ganze weitere biblische Geschichte beschreibt diese wechselvolle Geschichte zwischen Gott und den Menschen, die von der Trennung gekennzeichnet ist.

Interessant ist auch die griechische Bezeichnung für Sünde. Das griechische Wort „Hamartia“ bedeutet wörtlich „Zielverfehlung“, es stammt ursprünglich aus dem Bogenschiessen. Sündigen heisst in diesem Sinne also so viel wie daneben treffen. Man hat vielleicht das richtige Ziel anvisiert, ist aber nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es auch wirklich zu erreichen.

Wir können sagen: Sünde als Trennung und als Zielverfehlung verhindert, dass die Liebe Gottes, also die Energie des Lebens, frei fliessen und uns wirklich erreichen kann. Sünden sind hier nicht einzelne Übertretungen, sondern Haltungen, die uns daran hindern, unser Potenzial wirklich auszuschöpfen und das wahre Leben, das für uns bestimmt ist, auch wirklich zu leben. Oftmals errichten wir uns selber Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens abschneiden. Das können z.B. irrationale Ängste sein, ein mangelndes Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten, die Unfähigkeit, unsere Mitmenschen anzunehmen, mangelnder Mut, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, ein unverrückbares Verharren auf die eigenen Positionen oder ein Fixiertsein auf Erfolg und materiellen Besitz. Einzelne Übertretungen können aus diesen Haltungen resultieren, die Wurzel der Sünde liegt aber anderswo. Sie besteht im Versuch, das Leben mit untauglichen Mitteln zu bewältigen. Sünden sind also Mogelpackungen, sie versprechen etwas, das sie nicht halten können. Es sind Grundhaltungen, die uns von Gott, unseren Mitmenschen und von uns selbst trennen und dazu führen können, dass wir unser eigentliches Leben verfehlen können so wie ein Bogenschütze das Ziel.

Die katholische Theologie entwarf einen Katalog der 7 Todsünden: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Masslosigkeit und Unkeuschheit. Heute würde man diesen Katalog für den modernen Menschen vielleicht etwas anders formulieren. Vor allem der Begriff „Todsünde“ wirkt sehr bedrohlich. Dass der Tod der Sünde Sold sein soll, ist eigentlich seit Jesus Christus überholt. In Jesus Christus hat Gott uns unsere Liebe erwiesen, und das bedeutet die Vergebung der Sünden. Das und nichts anderes ist die Botschaft des Evangeliums. Die Sünde führt nicht automatisch zum Tod. Es gibt einen Ausweg aus dem sündigen Leben. Natürlich gehören zur Vergebung Einsicht, Busse und Umkehr. Doch das Schöne ist: Die Vergebung kommt zuerst! Weil wir die Vergebung erfahren haben, werden wir fähig zur Umkehr und frei, dem Guten zu dienen. Wie es im Römerbrief heisst: Wir sind nicht länger Knechte der Sünde, sondern sind nun befreit dazu, Gott und der Gerechtigkeit zu dienen.

Wie dies konkret aussehen kann, zeigen uns Auflistungen der Tugenden als Gegenpole zu den Sünden. Der Galaterbrief listet die sogenannten „Früchte des Geistes“ auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut. In der kirchlichen Kunst werden die vier Kardinaltugenden des Aristoteles Gerechtigkeit, Klugheit, Mässigung und Tapferkeit ergänzt mit den drei biblischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es gilt also, zu unseren sündigen Grundhaltungen die entsprechenden Gegenhaltungen, also die Tugenden zu entwickeln. Das und nichts anderes bedeutet Umkehr. Es setzt voraus, dass wir uns unserer sündigen Haltungen bewusst sind und dass wir eine Umkehr – also eine Befreiung davon – wirklich bewusst wollen. Ich betone nochmal, dass dies nicht eine Voraussetzung zur Vergebung ist, sondern eine Folge davon.

Wir dürfen uns also als Menschen verstehen, welche die Vergebung bereits erfahren haben. Dann werden wir frei, unserer Sündigkeit ins Gesicht zu schauen und können uns auf dem Weg machen, uns befreien zu lassen zum Dienst am Guten.