Bedingungslose Liebe

Predigt zum Karfreitag 2018

Stugl 2 (5)

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er betrübt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! (Joh. 13, 21 – 27)

 

Das Bild, das Sie hier sehen, ist ein Fresko aus der Kirche Stugls im Bündnerland. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert, darum ist nicht alles sehr gut erhalten. Doch es ist deutlich erkennbar, dass es sich hier um eine Abendmahlsszene handelt.

Jesus – hier übergross dargestellt mit einer Gloriole, sitzt mit seinen Jüngern zu Tisch. Zwei dieser Jünger fallen optisch aus dem Rahmen: Deutlich zu sehen ist der Jünger, der vor Jesu Brust mit dem Kopf auf dem Tisch liegt, es handelt sich um den Jünger, „den Jesus lieb hatte“, wie es im Johannesevangelium heisst. Dieser wird hier schlafend dargestellt. Schräg gegenüber von Jesus sehen wir einen Mann im Profil. Das ist Judas. Judas wird in der kirchlichen Kunst häufig im Profil, also von der Seite dargestellt. Das hat einen bestimmten Grund. Man sagte früher: Das Böse schaut einen nicht direkt an. Es handelt häufig hinterhältig und unberechenbar. Man kann ihm nicht in die Augen schauen. Judas ist derjenige, der Jesus wenige Stunden später verraten wird. Deshalb wird Judas mit dem Bösen identifiziert. Auch er trägt hier eine Art Heiligenschein, aber dieser ist nicht wie bei den Anderen golden, sondern grau, so wie ein Schatten.

Das Besondere an diesem Bild ist die Beziehung zwischen Jesus und Judas. Mit seiner rechten Hand reicht Jesus dem Judas das Brot, es sieht aus, als würde er ihn füttern. Mit den Händen macht Judas eine bittende Geste. Er erkennt sich selber als bedürftig, er braucht Jesu Zuwendung gerade in diesem Moment. Die Beziehung, die direkte Verbindung zwischen Jesus und Judas dominiert das gesamte Bild. Die Hand Jesu, die sich nach Judas ausstreckt, symbolisiert die besondere Zuwendung, die Jesus dem Judas zuteil werden lässt. Jesus weiss genau, dass Judas derjenige ist, der ihn bald verraten wird. Und doch gilt ihm seine ganze Nähe und Aufmerksamkeit, wir könnten auch sagen: seine Vergebung, seine Gnade, seine Barmherzigkeit, seine Liebe.

In dieser Geste wird etwas vom Wichtigsten an Jesu Botschaft deutlich: Seine Zuwendung gerade zu denen, die es am meisten nötig haben. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“, ist ein wichtiger Ausspruch von Jesus. In der gesamten Zeit seines öffentlichen Wirkens hat er sich den Menschen zugewandt, die am Rande der Gesellschaft waren: Den Zöllnern, Prostituierten, Kranken, also nach landläufiger Meinung: Den Sündern. Jesus hat nicht nach ihrer Schuld gefragt, sondern sie angenommen, so wie sie waren, hat ihnen ihre Würde zurückgegeben und sie aufgerichtet zu Menschen, die wieder aufrecht gehen können. Gerade ihnen hat er die Liebe Gottes verkündigt. Das war Jesu Mission: Sich um die Menschen zu kümmern, die wegen ihrer Sündhaftigkeit in der Gesellschaft als die Letzten gelten. Jesus nimmt sich gerade dieser Menschen an, in ihrer Gebrochenheit, ihrer Schuld, ihrer Verzweiflung. Er vermittelt ihnen, dass gerade sie von Gott geliebt und angenommen sind. Das ist die Hauptbotschaft des Evangeliums.

Auch bei seinem letzten Mahl tut Jesus das, was er immer getan hat. Er widmet gerade dem seine volle Aufmerksamkeit, der es eigentlich am wenigsten verdient haben sollte. Doch diese Kategorie gibt es bei Jesus nicht. Bei ihm geht nicht um Verdienst, sondern um Bedürftigkeit. Von allen Jüngern, die an seinem Tisch sitzen, ist Judas derjenige, der Liebe und Vergebung am meisten nötig hat. Die Gesunden brauchen den Arzt nicht. Die, bei denen alles in Ordnung ist, die bereits in Harmonie mit ihm und Gott leben, brauchen Jesu Zuwendung am wenigsten. Deshalb ist der Jünger, der an Jesu Brust liegt, schlafend. Jesus muss sich nicht um ihn kümmern. Die Beziehung zwischen ihnen ist harmonisch. Stattdessen reckt Jesus seine Hand über ihn hinweg zu Judas. Diese Geste hat etwas fast Zärtliches an sich. Er füttert Judas wie eine Mutter ihr Kind. In dieser liebevollen Geste kommt bereits die Vergebung zum Ausdruck, die Judas so dringend nötig hat. Denn Judas ist verstrickt in Schuld und Sünde. Er kann daraus nicht mehr heraus. Auch jetzt wird er nicht mehr anders können, als das zu tun, was er den Hohepriestern zugesagt hatte. Jesus hindert ihn nicht daran. Gerade weil er weiss, was Judas vorhat, wendet er sich ihm mit besonderer Intensität zu. Judas weiss wohl, dass er sich jetzt schuldig macht. Darum ist er als Bittender ganz besonders auf der Suche nach Gott. Er braucht Gottes Liebe und Vergebung jetzt am allermeisten.

Und auch Jesus ist auf der Suche, nämlich nach denen, die verloren sind. Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist, sagte er einmal. Und seine Suche hört auch in den letzten Stunden seines Lebens, ja selbst am Kreuz nicht auf. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ – mit diesen Worten bittet er Gott um Vergebung für seine Peiniger und für die, die ihn ans Kreuz brachten. Die gesamte Kreuzigungsszene ist vor allem ein Ausdruck von Liebe und Vergebung. So seltsam es klingt: Jesus hängt am Kreuz als ein Vergebender. Auch noch in den schlimmsten Qualen nimmt er die Menschen an, und zwar bedingungslos.

Im Kreuzesgeschehen zeigt sich der bedingungslos liebende Gott. In Jesus Christus hat Gott sich in Menschengestalt in diese Welt hineinbegeben und hat sich damit der Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit dieser Welt ausgeliefert. Er vermeidet es nicht, eines der schrecklichsten Schicksale eines Menschen zu erleiden. Und selbst jetzt bleibt Gott den Menschen zugewandt, bleibt ein vergebender, bedingungslos liebender Gott. Das ist das Paradox und gleichzeitig die Grossartigkeit des Kreuzesgeschehens.

Nicht nur Judas, auch die anderen Jünger machen sich in dieser Nacht schuldig. Drei Jünger schlafen ein, als sie für Jesus wachen sollten. Nach der Verhaftung laufen die Jünger verstört auseinander, anstatt Jesus beizustehen. Und Petrus, der versprochen hatte, für Jesus einzustehen, verleugnet ihn dreimal. Trotz ihrer Schuld und ihres Versagens werden diese Jünger später die ersten Apostel, welche die Kirche Christi aufbauen. Dies ist nur möglich durch Gottes Vergebung.

In der Passionsgeschichte zeigt sich die Unzulänglichkeit des Menschen und gleichzeitig die unbedingte, vorbehaltlose Liebe Gottes ohne Wenn und Aber.

Man muss also kein Judas sein, auch kein römischer Soldat, um Gottes Vergebung zu benötigen. Die bedingungslose und vergebende Liebe Gottes brauchen wir alle. Auch wenn wir wohl nicht solche Untaten begehen wie Judas, ein kleinbisschen Judas steckt wohl auch in jedem Menschen. Jeder Mensch ist grundsätzlich fähig zum Guten wie auch zum Bösen. Jeder Mensch hat seine dunklen Seiten, seine Schatten, die er selber nicht sehen will oder kann. Niemand von uns kann es vermeiden, in Sünde verstrickt zu sein. Manchmal können wir gar nicht anders, als uns schuldig zu machen, selbst wenn wir das Gute anstreben. Jeder Mensch ist mitunter angewiesen auf Gottes Vergebung. Und die gute Nachricht ist: Wir bekommen diese Vergebung, und zwar umsonst. Die bedingungslose Liebe Gottes gilt uns allen. Wir können und dürfen mit all unseren guten und schlechten Seiten immer wieder vor Gott treten. Gott sucht uns und wendet sich uns zu, gerade in den Momenten, in denen wir das eigentlich am wenigsten verdient hätten. Voraussetzung ist einzig, dass wir offen und empfänglich sind für Gottes Liebe, so wie es Judas im Bild zeigt mit seiner bittenden und empfangenden Geste. Wir dürfen uns von Gott angenommen wissen, wie wir sind, gerade auch mit unseren dunklen Seiten. Das erst ist die Voraussetzung, damit wir schliesslich auch fähig werden zum Guten.

Am Beispiel des Judas können wir erfahren, dass Gottes Liebe bedingungslos ist und uns allen gilt. Das ist die Botschaft, die das Kreuz Christi uns verkündigt bis heute.

Wer ist dieser?

Predigt am 19.02.17/12.03.17

Und es begab sich, als Jesus allein war und betete und nur seine Jünger bei ihm waren, da fragte er sie und sprach: Wer, sagen die Leute, dass ich sei? Sie antworteten und sprachen: Sie sagen, du seist Johannes der Täufer; einige aber, du seist Elia; andere aber, es sei einer der alten Propheten auferstanden. Er aber sprach zu ihnen: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Da antwortete Petrus und sprach: Du bist der Christus Gottes! Er aber gebot ihnen, dass sie das niemandem sagen sollten.  (Lk. 9, 18 – 21)

„Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“, fragt Jesus seine Jünger. – Für wen halten mich die Leute? – Was glauben die Leute, wer ich bin?

Jesus weiss, dass viel über ihn geredet wird, und zwar nicht nur darüber, was er tut, sondern vor allem auch darüber, wer er wohl sei.

Denn Jesus gibt Rätsel auf. Die Leute haben schon gemerkt, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist. Seine Worte berühren die Menschen, wühlen sie auf, scheiden auch oftmals die Geister. Seine Taten zeugen von einer besonderen Vollmacht. Er vollbringt Wunder, er kann Kranke heilen,vermehrt Speisen, stillt den Sturmwind, weckt sogar Tote auf. Er masst sich an, Sünden zu vergeben, bricht mit Tabus, indem er sich mit Sündern an einen Tisch setzt, kritisiert religiöse Autoritätspersonen, und scheut sich nicht, auch das Sabbatgebot zu brechen. Er kann sich liebevoll den Menschen zuwenden, aber auch wütend werden und harte Worte gebrauchen. Und er scheint eine ganz besondere Beziehung zu Gott zu haben, nennt ihn liebevoll „Abba“, also Papa.

Es ist allen klar: Jesus ist kein Mensch wie alle anderen. Aber wer ist er? So werden sich wohl viele Leute damals gefragt haben, die Jesus begegnet sind oder auch nur von ihm gehört haben. Die Evangelien bezeugen uns, dass die Menschen oft zueinander gesagt haben: Wer ist dieser, dass er Kranke heilen kann? Dass er Sündern vergibt? Dass sogar Wind und Sturm ihm gehorchen? Nach jedem Wunder, das die Menschen miterleben, taucht diese Frage auf, sie scheint förmlich über den Köpfen zu schweben: Wer ist dieser? Was ist das für ein Mensch? Jesus scheint in kein Schema zu passen, kein Deutungsversuch vermag das Phänomen Jesus von Nazareth abschliessend und befriedigend zu erklären.

So behelfen sich die Leute mit Figuren aus der Vergangenheit. Es war damals ein verbreiteter Glaube, dass besondere Personen, wie z.B. Propheten, eines Tages wiederkommen und in allenfalls anderer Gestalt ihr Werk fortsetzen würden. So wartete man auf ein Wiedererscheinen des berühmten Propheten Elia oder auf einen der anderen Propheten. Ein Erklärungsversuch der Leute ist es also, zu sagen, Jesus sei der wiedererschienene Elia, Johannes der Täufer oder ein anderer Prophet aus der Vergangenheit. Doch man merkt, dass diese Vermutungen nicht ganz greifen, dass Jesus eben doch grösser und anders ist als die bekannten Figuren. Jesus bringt Neues in die Welt, noch nie Dagewesenes. Die Vergleiche mit früheren Personen sind eher hilflose Versuche, die Person Jesus zu erklären.

In den Evangelien kursieren viele Titel, mit denen Jesus belegt wird. Sich selber nennt Jesus an einigen Stellen den „Menschensohn“, dies ist ein Begriff aus dem Alten Testament, und die Bedeutung dieses Titels liegt bis heute im Dunkeln. Oftmals wird Jesus auch als König bezeichnet und im gleichen Atemzug als „Sohn Davids“, wie z.B. bei seinem Einzug in Jerusalem.

Nur an einem Ort fragt man sich nicht, wer Jesus sei: Nämlich dort, wo man ihn bereits kennt, in Nazareth, seiner Heimatstadt. Hier meint man zu wissen, wer Jesus ist: Das ist doch der Sohn vom Zimmermann Josef, der unter uns aufgewachsen ist, den haben wir doch als Kind schon gekannt! – Man kann in diesem bekannten Menschen nichts Besonderes entdecken. Es fehlt schlicht die Distanz, um in Jesus mehr zu sehen als den gewöhnlichen Menschen aus der Nachbarschaft. „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“, sagt Jesus dazu und kehrt seiner Heimatstadt den Rücken.

Doch sonst überall stellt sich immer wieder die Frage: Wer ist Jesus? Ein besonderer Prophet? Ein Wunderheiler? Die Wiedergeburt eines früheren Propheten? Oder gar ein Quacksalber oder ein Volksverführer?

Viel wird gerätselt und spekuliert, doch niemand findet eine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Jesus weiss das, und so fragt er selber seine Jünger: Was sagen die Menschen, wer ich sei? Auch die Jünger können ihm nur die Vermutungen und Spekulationen der Leute wiedergeben. Und dann fragt Jesus sie selber: Wer, sagt ihr aber, dass ich sei? Nun kommt die Antwort des Petrus: Du bist der Christus Gottes, d.h. der Gesalbte, auf Hebräisch: Der Messias. Petrus scheint es erfasst zu haben. Doch Jesus gebietet ihnen, nicht darüber zu sprechen. Warum das so ist, ist bis heute ein Rätsel. Vielleicht will sich Jesus nicht festlegen lassen. Vielleicht will er gerade, dass die Menschen rätseln und spekulieren; dass ihnen nicht eine fertige Antwort vorgesetzt wird, sondern dass sie selber, jeder für sich auf der Suche sein sollen nach einer Antwort auf die Frage: Wer ist Jesus?

Wer ist Jesus? – Das fragen sich viele Menschen auch heute noch. Und auch wenn wir sagen: Er ist der Christus, der Sohn Gottes, dann stellt sich immer noch die Frage: Was bedeutet das? Und vor allem: Wie können wir das heute verstehen?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus, das bedeutet, dass wir uns fragen sollen: Wer ist Jesus Christus für mich? Denn jenseits aller kursierenden Jesusbilder geht es darum, ein persönliches Verhältnis zu finden zu Jesus als die zentrale Figur des christlichen Glaubens.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich diese Frage zu beantworten.

Für die einen ist Jesus ein moralisches Vorbild. Sein Eintreten für die Armen und Schwachen, seine klaren Worte gegen Heuchelei und Ungerechtigkeiten sind beeindruckend. Seine Worte zugunsten von Feindesliebe, Frieden und Gewaltlosigkeit zielen auf ein friedliches und soziales Zusammenleben der Menschen. Seine Bereitschaft, für uns auch durch Leiden und Tod zu gehen ist vorbildlich. In der Nachfolge nehmen Christen seine Werte an, versuchen, in den Spuren Jesu zu wandeln und damit zu helfen, eine bessere Welt zu schaffen.

Für andere ist Jesus vor allem ein religiöser Erneuerer. Seine harten Worte gegen die Pharisäer, seine Tabubrüche und gezielten Gesetzesübertretungen dienen als Kritik auch heutiger allzu starrer religiöser Strukturen und motivieren dazu, die Kirche immer wieder zu reformieren und zu erneuern.

Für viele Christen ist Jesus wichtig in einer persönlichen Beziehung, wie zu einem Bruder oder Freund. Im regelmässigen Gebet und Gottesdienst pflegen sie eine Verbindung zu ihm; sie fühlen sich von Jesus durch ihren Alltag und ihr Leben begleitet, vertrauen ihm ihre Sorgen und Nöte an und fühlen sich von ihm persönlich angenommen auch in ihrer Sündhaftigkeit.

Für andere wiederum ist Jesus vor allem der Christus, der Erlöser und Heiland, der Auferstandene, der zur Rechten Gottes sitzt. Als Herr über die Lebenden und die Toten wird hier vor allem seine Göttlichkeit betont. Jesu Erlösungswerk durch seinen Tod und seine Auferstehung ist für diese Menschen Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens. Ihre Verehrung dient dem auferstandenen Christus; er dient ihnen als Quelle einer Hoffnung, die auch über den Tod hinausgeht.

Nicht wenige Menschen in heutiger Zeit hadern auch mit diesem Jesus. Einigen ist er zu abgehoben, zu undurchsichtig, zu unbegreiflich, zu weich, zu revolutionär, zu links, zu fremd, zu fern, zu moralisch, zu menschlich oder zu göttlich. An Jesus scheiden sich auch heute noch die Geister, und viele Menschen fragen genauso wie in biblischen Zeiten: Wer ist dieser? Was kann ich mit ihm anfangen, wie kann ich seine Worte und Handlungen verstehen, was soll ich von ihm halten, welchen Platz kann er in meinem Leben einnehmen, kann ich überhaupt an ihn glauben und wenn ja in welcher Weise?

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“, fragt Jesus auch uns als getaufte Christinnen und Christen. Der möglichen Antworten gibt es viele, und sie werden sich im Laufe des Lebens verändern. Es ist eine Frage, mit der wir unser Leben lang unterwegs sein können; je nach Lebensabschnitt und Lebenssituation können wieder andere Antworten aktuell werden.

Doch schlussendlich lässt sich diese Frage nur von innen heraus beantworten, nicht als blosse, abgehobene Theorie, sondern für jeden Menschen ganz persönlich.

Wie auch immer unser persönliches Jesusbild sein mag, wichtig ist, dass wir darin etwas von Gott erkennen. „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“, so heisst es im Kolosserbrief*. In Jesus hat sich gezeigt, wie Gott ist. So ist unser Verhältnis zu Jesus gleichzeitig ein Verhältnis zu Gott. Das zu begreifen kann nur von innen geschehen.

„Wer, sagt ihr aber, dass ich sei?“ Jesus stellt auch uns diese Frage und lässt sie offen. Beantworten können nur wir sie selber.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit dieser Frage weiterhin auf dem Weg sind und immer wieder ihre eigenen persönlichen Antworten finden, und vor allem, dass Sie in ihrem Fragen nach Jesus schliesslich Gott finden mögen.

*Kol 2,9

Von Splittern und Balken

Predigt am 21.01.17/29.01.17

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.

Was sieht du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken in deinem Auge aber nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen, und dabei ist in deinem Auge der Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge. Dann wirst du klar sehen um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. (Mt. 7, 1 – 5)

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Harte Worte sind das, die Jesus da sagt. Hier ist nichts von Einladung, von Liebe oder Vergebung zu hören. Im Gegenteil, es handelt sich hier um eine Ermahnung.

Ein mahnender Jesus, passt das ins Bild? Hätten wir nicht lieber einen sanften und liebevollen Jesus, wie er so häufig verkündigt wird?

Ich behaupte: Das ist kein Widerspruch! Jesus war nicht immer nur sanft und lieb. Er konnte auch Klartext reden, Missstände beim Namen nennen. Das gehörte zu Jesu Verkündigung, zu seiner Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen, zu seiner Vision vom Reich Gottes.

Jesus konfrontiert uns in dieser Rede mit uns selber und will uns auf einen Weg führen, mit unseren Mitmenschen und mit unserem eigenen Ich anders umzugehen. Das dient seinem Ziel, die Welt dem Reich Gottes ein Stück näher zu bringen.

Es ist wichtig, diese Worte in ihrem Zusammenhang zu sehen. Dieser Text ist ein Teil der Bergpredigt, an dessen Anfang die Seligpreisungen stehen, die ich zu Beginn dieses Gottesdienstes gelesen habe. Die Seligpreisungen sind ein Zuspruch, also wie eine Art Balsam auf die Seele. Danach kommen verschiedene Ausführungen zu einem gottgefälligen Leben: Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, seinem Mitmenschen nicht fluchen, nicht schwören, nicht vergelten, seine Feinde lieben, seine Frömmigkeit nicht zur Schau stellen, sich nicht sorgen und wie gesagt: nicht richten.

Der Zuspruch der Bergpredigt beinhaltet auch einen Anspruch an die Menschen. Sie sollen mit ihrem Verhalten sich des Zuspruches würdig erweisen. Wichtig ist: Das Verhalten ist keine Bedingung, sondern eine Folge davon, dass man Gottes Liebe erfahren hat. Der Mensch, der sich von Gott angesprochen und geliebt weiss, kann sich in seinem Lebenswandel dementsprechend verhalten. Zuerst kommt also der Zuspruch, danach erst der Anspruch an das Verhalten.

Es ist kein geringer Anspruch, den Jesus da an seine Hörer stellt  – und damit auch an uns.

Schauen wir einmal genauer hin, was Jesus da in seiner Rede fordert: Richtet nicht! Er meint hier nicht das Richten von professionellen Richtern, sondern das Urteilen eines jeden Menschen über seine Mitmenschen. Und das ist etwas, das tagtäglich geschieht. Z.B. beim üblichen Klatsch und Tratsch werden nicht nur Gerüchte in Umlauf gebracht, sondern es wird gerichtet, Urteile werden gefällt über gutes und böses, richtiges und falsches Verhalten der Anderen. Es bedeutet, zu werten, die Menschen zu bewerten, nicht nur aufgrund ihres Tuns, sondern oftmals auch aufgrund ihrer Lebensweise, Äusserlichkeiten, Nationalität, Alter usw. Man sucht gerne nach dem Haar in der Suppe beim Anderen, hofft mit Schadenfreude, dass bei ihm Fehler und Schwächen zutage treten. Und weil wir es ja besser wissen, können wir uns über die Fehlbaren erheben und uns ihnen überlegen fühlen. (Ich sage jetzt bewusst „Wir“, denn ich denke, kein Mensch ist vor einer solchen Haltung ganz gefeit).Wenn ich mit dem Finger auf die Fehler anderer zeigen kann, muss ich mich nicht mit meinen eigenen Fehlern auseinandersetzen. Darum ist das Klatschen und Tratschen, das Gerüchte streuen, das Urteilen und das Richten so eine beliebte Tätigkeit. Rufmordkampagnen, das an den Pranger stellen einzelner oder auch Mobbing können einen Menschen ruinieren. Aber auch das alltägliche Werten im kleinen Kreis gehört dazu.

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus!  Wer über andere urteilt, lässt sich ein auf das grosse Spiel, den Kreislauf von Klatsch und Tratsch, von Besserwisserei und des sich über andere Erhebens. Wer über andere richtet, verhält sich  respektlos und anmassend und begegnet dem Nächsten nicht auf Augenhöhe. Er selber stellt sich als besser hin. Kein Wunder, dass da zurückgegeben wird, dass man sich dann auch selber dem Beurteilt-Werden aussetzt. Wer über andere richtet, muss damit rechnen, dass die gleichen Massstäbe an ihn selber angelegt werden. Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden, sagt Jesus. Der Bibeltext geht davon aus, dass kein Mensch besser ist als der andere und dass niemand das Recht hat, sich über einen anderen zu erheben. Er weiss, dass alle Menschen irgendwie in Schuld verstrickt sind. Er rechnet damit, dass das Böse, das ein Mensch aussendet, schlussendlich zu ihm zurückkehrt.

Die Rede vom Splitter und vom Balken im Auge ist ein Bild, das mit der Übertreibung spielt. Natürlich kann kein Mensch einen Balken im Auge haben. Aber es ist sicher kein Zufall, dass es hier um das Auge geht. Wer über andere urteilt, mag im Anderen etwas entdeckt haben. Doch gleichzeitig ist er blind gegenüber seinen eigenen Fehlern. Sein Blick ist verstellt. Und das Schlimme daran ist: Er merkt es nicht einmal. Er hat nur einen Blick für die Fehler des Anderen. Psychologisch ausgedrückt können wir sagen: Ein solcher Mensch hat eine eingeschränkte Selbstwahrnehmung.

Denn jeder Mensch hat eine verborgene Seite an sich, einen sogenannten Schatten. Das ist die Seite an uns, die wir nicht so gerne anschauen und auch anderen Menschen nicht zeigen wollen, weil sie nicht unserem eigenen Selbstbild entspricht, weil sie unsere Fehler und Schwächen beinhaltet, also etwas, das wir an uns selber ablehnen. Es ist eine Seite, die wir am liebsten verstecken oder leugnen, auch vor uns selber.

Wer seinen Schatten verdrängt, neigt dazu, seine eigenen Fehler zu verneinen und auf die anderen zu projizieren. Um mit Jesus zu sprechen: Den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht, sondern nur im Form eines Splitters im Auge des Anderen, den wir dann scharf verurteilen, denn es ist ja anscheinend nicht unser eigener Splitter. Wir können uns von ihm abgrenzen, indem wir mit dem Finger auf andere zeigen, indem wir anderen die Schuld geben für sämtliche Missstände in der Welt.

Es  geht also darum, den Balken in unserem eigenen Auge zu erkennen, uns damit auseinanderzusetzen, bevor wir uns um den vermeintlichen Splitter im Auge des anderen kümmern können. Oftmals wird dieser dann bedeutungslos.

Und jetzt kommt etwas ganz Wichtiges: Wenn wir uns mit unserem eigenen Balken auseinandersetzen, also mit unserem Schatten, der unsere Fehler und Schwächen, vielleicht auch unsere bösen Seiten beinhaltet, dann sollten wir ihn nicht bekämpfen, nicht ausmerzen wollen. Wir sollten ihn erst einmal genau anschauen und dann liebevoll annehmen! Ja, auch wenn es seltsam klingt: diesem Teil von uns sollen wir mit genau so viel Liebe begegnen wie Jesus den Sündern begegnet ist. Er hat ihre Sünde nicht gutgeheissen, aber er hat sie in Liebe angenommen. Und genau das sollten wir auch mit unserem Schatten machen, denn er ist ein Teil von uns. Wir sollten uns selber nicht ablehnen, auch nicht Teile von uns. Wenn wir unseren Schatten liebevoll annehmen können, dann wird er für uns sichtbar, und dann kann er sich auch verwandeln. Wenn wir unsere abgelehnten Seiten akzeptieren, können wir den Balken aus unserem Auge entfernen. Und erst dann sehen wir klar und können uns um die Schatten der Anderen kümmern. Wenn wir unseren eigenen Fehlern mit Barmherzigkeit, Geduld und Toleranz begegnen, dann können wir auch barmherzig, geduldig und tolerant mit den Fehlern anderer umgehen. Das Herausziehen des Splitters aus dem Auge des Anderen ist dann nicht als Zurechtweisung zu verstehen, sondern vielmehr als Hilfe. Aus der Erfahrung heraus, dass auch wir unsere Schattenseiten haben, können wir den Anderen helfen, auch ihre Schattenseiten anzunehmen. Das ist etwas ganz anderes, als über sie zu richten und zu urteilen.

Mit der Aufforderung „Richtet nicht!“ wollte Jesus nicht einfach einer Laxheit und einer falschen Toleranz Vorschub leisten. Ihm schwebte vielmehr eine vorurteilsfreie Gemeinschaft vor, in der alle Menschen so angenommen werden wie sie sind, mit all den Seiten, die zu ihnen gehören, ohne Verdrängung, Heuchelei oder Überheblichkeit. Jesus wollte Menschen, die zu sich selber stehen können auch mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wenn wir versuchen, diesen Weg einzuschlagen im Umgang mit uns selber und mit den Anderen, dann sind wir dem Reich Gottes ein Stück näher gekommen.

Zum Thema Sünde

Predigt am 29.05.16

Röm. 6, 12 – 23

„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Dieser Titel eines Liedes von Zarah Leander kommt wohl vielen Menschen in den Sinn, wenn es um den Begriff Sünde geht. Mir ging es jedenfalls so, als ich überlegte, wo der Begriff Sünde in unserer Alltagssprache überall verwendet wird.

Das Wort Sünde ist in aller Munde, auch in der heutigen säkularisierten Welt.

Da ist z.B. die Rede vom Verkehrssünder, dem Steuersünder oder dem Abfallsünder; man spricht von den Bausünden oder den Jugendsünden. Die Verwendung des Begriffes „Sünde“ drückt oftmals eine Verharmlosung aus. Die Jugendsünden z.B. sind kleine Dummheiten, Streiche oder Verfehlungen, die mit jugendlichem Leichtsinn oder Übermut entschuldigt werden können. Als Jugendsünden bezeichnet man aber auch Dinge, die man früher getan hat und mit denen man sich im reiferen Alter nicht mehr identifizieren kann. Abfallsünder sind Leute, die Abfall einfach liegen lassen, Steuersünder sind Leute, die Steuern hinterziehen, Verkehrssünder haben die Verkehrsregeln missachtet. Es sind meistens die kleinen Vergehen, die nach landläufiger Meinung jedem passieren können, für die man im Allgemeinen sogar Verständnis aufbringt. Wirklich kriminelle Handlungen werden nicht mehr als Sünde bezeichnet. Bei den Steuersündern stellt sich allerdings die Frage, ab welchem Betrag man eigentlich eher von Vergehen sprechen sollte als in verharmlosender Weise von „Sünden“.

Der Begriff Sünde kommt in unserem Alltagsleben aber auch häufig im Zusammenhang mit der Ernährung vor: Man hat gesündigt, weil man der Sahnetorte nicht widerstehen konnte, obwohl man doch eigentlich abnehmen will. Sünden sind im heutigen Sprachgebrauch häufig kleine Laster, von denen man eben nicht lassen kann.

Die Sünde hat sich also in unserer Alltagssprache gehalten, obwohl wir in einer weitgehend nicht-religiösen Gesellschaft leben. In der heutigen Zeit ist die Sünde also eher etwas, das man belächelt, anstatt dass man Angst oder Respekt vor diesem Begriff hat.

Im rein kirchlichen Kontext ist das anders. Hier versteht man unter Sünde ein Vergehen, ein Fehlverhalten, eine moralisch verwerfliche Tat, eine Übertretung von Gottes Geboten.

Als Moses die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste führte, gab er ihnen die 10 Gebote, um diesen losen Haufen von Menschen zu einem Volk mit verbindlichen Regeln zu vereinen. Ein Übertreten der Regeln störte das Zusammenleben des Volkes, was zu einer Gefährdung der ganzen Gemeinschaft führen konnte. Daher war es besonders wichtig, dass die Regeln und Gebote eingehalten wurden; die Übertretung derselben galt als ein schlimmes Vergehen. Und weil Gott als Urheber der 10 Gebote galt, war der Verstoss dagegen auch ein Vergehen gegen Gott.

In neutestamentlicher Zeit wurde der Begriff Sünde von der Gesellschaft vor allem mit Zöllnern und Prostituierten in Verbindung gebracht. Von den Zöllnern wurde behauptet, sie würden beim Geldeintreiben in die eigene Tasche wirtschaften. Doch das eigentlich Schlimme war, dass sie mit den Römern, der verhassten Besatzungsmacht zusammenarbeiteten. Sie galten also als Verräter am eigenen Volk. Die Prostituierten standen für eine entfesselte, ungezügelte Sexualität. Die Männer, die ihre Dienste in Anspruch nahmen, wurden hingegen nicht als Sünder bezeichnet.

Auch später im Verlauf der Kirchgengeschichte wurde der Sündenbegriff häufig im Zusammenhang mit dem Thema Sexualität verwendet – und dies bis heute. Die kirchliche Sexualmoral brachte jahrhundertelang neurotische Ängste, Verklemmtheit und Schuldgefühle hervor. Der erhobene Zeigefinger der Kleriker schüchterte viele Menschen ein und verhinderte oftmals ein gesundes Verhältnis zum anderen Geschlecht sowie auch zum eigenen Körper. Bei dieser Fixierung auf das Thema Sexualität ging und geht auch heute noch häufig der Blick auf die eigentliche Bedeutung des Sündenbegriffes verloren.

Doch es ist wichtig, dass wir als moderne Menschen ein neues Verständnis vom Begriff Sünde bekommen, jenseits der moralisierenden wie auch der verharmlosenden Bedeutung.

Was also bedeutet der Begriff Sünde eigentlich? Das deutsche Wort Sünde kommt ursprünglich von Sund, was so viel wie „Kluft“ oder „Trennung“ bedeutet. Ein Sund trennt z.B. eine Insel vom Festland.

In der Theologie wird Sünde häufig als ein Getrenntsein von Gott bezeichnet. Die sogenannte Sündenfallgeschichte am Anfang der Bibel beschriebt dies sehr gut: Die ersten Menschen im Garten Eden assen verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis. Sie hielten sich nicht an die Regeln, die Gott ihnen auferlegt hatte. Damit hatten sie das Recht verwirkt, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und wurden aus dem Garten Eden vertrieben. Die ganze weitere biblische Geschichte beschreibt diese wechselvolle Geschichte zwischen Gott und den Menschen, die von der Trennung gekennzeichnet ist.

Interessant ist auch die griechische Bezeichnung für Sünde. Das griechische Wort „Hamartia“ bedeutet wörtlich „Zielverfehlung“, es stammt ursprünglich aus dem Bogenschiessen. Sündigen heisst in diesem Sinne also so viel wie daneben treffen. Man hat vielleicht das richtige Ziel anvisiert, ist aber nicht gesammelt und ausgerichtet genug, um es auch wirklich zu erreichen.

Wir können sagen: Sünde als Trennung und als Zielverfehlung verhindert, dass die Liebe Gottes, also die Energie des Lebens, frei fliessen und uns wirklich erreichen kann. Sünden sind hier nicht einzelne Übertretungen, sondern Haltungen, die uns daran hindern, unser Potenzial wirklich auszuschöpfen und das wahre Leben, das für uns bestimmt ist, auch wirklich zu leben. Oftmals errichten wir uns selber Blockaden und Hindernisse, die uns von Gott und damit von der Fülle des Lebens abschneiden. Das können z.B. irrationale Ängste sein, ein mangelndes Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten, die Unfähigkeit, unsere Mitmenschen anzunehmen, mangelnder Mut, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen, ein unverrückbares Verharren auf die eigenen Positionen oder ein Fixiertsein auf Erfolg und materiellen Besitz. Einzelne Übertretungen können aus diesen Haltungen resultieren, die Wurzel der Sünde liegt aber anderswo. Sie besteht im Versuch, das Leben mit untauglichen Mitteln zu bewältigen. Sünden sind also Mogelpackungen, sie versprechen etwas, das sie nicht halten können. Es sind Grundhaltungen, die uns von Gott, unseren Mitmenschen und von uns selbst trennen und dazu führen können, dass wir unser eigentliches Leben verfehlen können so wie ein Bogenschütze das Ziel.

Die katholische Theologie entwarf einen Katalog der 7 Todsünden: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Masslosigkeit und Unkeuschheit. Heute würde man diesen Katalog für den modernen Menschen vielleicht etwas anders formulieren. Vor allem der Begriff „Todsünde“ wirkt sehr bedrohlich. Dass der Tod der Sünde Sold sein soll, ist eigentlich seit Jesus Christus überholt. In Jesus Christus hat Gott uns unsere Liebe erwiesen, und das bedeutet die Vergebung der Sünden. Das und nichts anderes ist die Botschaft des Evangeliums. Die Sünde führt nicht automatisch zum Tod. Es gibt einen Ausweg aus dem sündigen Leben. Natürlich gehören zur Vergebung Einsicht, Busse und Umkehr. Doch das Schöne ist: Die Vergebung kommt zuerst! Weil wir die Vergebung erfahren haben, werden wir fähig zur Umkehr und frei, dem Guten zu dienen. Wie es im Römerbrief heisst: Wir sind nicht länger Knechte der Sünde, sondern sind nun befreit dazu, Gott und der Gerechtigkeit zu dienen.

Wie dies konkret aussehen kann, zeigen uns Auflistungen der Tugenden als Gegenpole zu den Sünden. Der Galaterbrief listet die sogenannten „Früchte des Geistes“ auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut. In der kirchlichen Kunst werden die vier Kardinaltugenden des Aristoteles Gerechtigkeit, Klugheit, Mässigung und Tapferkeit ergänzt mit den drei biblischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es gilt also, zu unseren sündigen Grundhaltungen die entsprechenden Gegenhaltungen, also die Tugenden zu entwickeln. Das und nichts anderes bedeutet Umkehr. Es setzt voraus, dass wir uns unserer sündigen Haltungen bewusst sind und dass wir eine Umkehr – also eine Befreiung davon – wirklich bewusst wollen. Ich betone nochmal, dass dies nicht eine Voraussetzung zur Vergebung ist, sondern eine Folge davon.

Wir dürfen uns also als Menschen verstehen, welche die Vergebung bereits erfahren haben. Dann werden wir frei, unserer Sündigkeit ins Gesicht zu schauen und können uns auf dem Weg machen, uns befreien zu lassen zum Dienst am Guten.