Bedingungslose Liebe

Predigt zum Karfreitag 2018

Stugl 2 (5)

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er betrübt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! (Joh. 13, 21 – 27)

 

Das Bild, das Sie hier sehen, ist ein Fresko aus der Kirche Stugls im Bündnerland. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert, darum ist nicht alles sehr gut erhalten. Doch es ist deutlich erkennbar, dass es sich hier um eine Abendmahlsszene handelt.

Jesus – hier übergross dargestellt mit einer Gloriole, sitzt mit seinen Jüngern zu Tisch. Zwei dieser Jünger fallen optisch aus dem Rahmen: Deutlich zu sehen ist der Jünger, der vor Jesu Brust mit dem Kopf auf dem Tisch liegt, es handelt sich um den Jünger, „den Jesus lieb hatte“, wie es im Johannesevangelium heisst. Dieser wird hier schlafend dargestellt. Schräg gegenüber von Jesus sehen wir einen Mann im Profil. Das ist Judas. Judas wird in der kirchlichen Kunst häufig im Profil, also von der Seite dargestellt. Das hat einen bestimmten Grund. Man sagte früher: Das Böse schaut einen nicht direkt an. Es handelt häufig hinterhältig und unberechenbar. Man kann ihm nicht in die Augen schauen. Judas ist derjenige, der Jesus wenige Stunden später verraten wird. Deshalb wird Judas mit dem Bösen identifiziert. Auch er trägt hier eine Art Heiligenschein, aber dieser ist nicht wie bei den Anderen golden, sondern grau, so wie ein Schatten.

Das Besondere an diesem Bild ist die Beziehung zwischen Jesus und Judas. Mit seiner rechten Hand reicht Jesus dem Judas das Brot, es sieht aus, als würde er ihn füttern. Mit den Händen macht Judas eine bittende Geste. Er erkennt sich selber als bedürftig, er braucht Jesu Zuwendung gerade in diesem Moment. Die Beziehung, die direkte Verbindung zwischen Jesus und Judas dominiert das gesamte Bild. Die Hand Jesu, die sich nach Judas ausstreckt, symbolisiert die besondere Zuwendung, die Jesus dem Judas zuteil werden lässt. Jesus weiss genau, dass Judas derjenige ist, der ihn bald verraten wird. Und doch gilt ihm seine ganze Nähe und Aufmerksamkeit, wir könnten auch sagen: seine Vergebung, seine Gnade, seine Barmherzigkeit, seine Liebe.

In dieser Geste wird etwas vom Wichtigsten an Jesu Botschaft deutlich: Seine Zuwendung gerade zu denen, die es am meisten nötig haben. „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken“, ist ein wichtiger Ausspruch von Jesus. In der gesamten Zeit seines öffentlichen Wirkens hat er sich den Menschen zugewandt, die am Rande der Gesellschaft waren: Den Zöllnern, Prostituierten, Kranken, also nach landläufiger Meinung: Den Sündern. Jesus hat nicht nach ihrer Schuld gefragt, sondern sie angenommen, so wie sie waren, hat ihnen ihre Würde zurückgegeben und sie aufgerichtet zu Menschen, die wieder aufrecht gehen können. Gerade ihnen hat er die Liebe Gottes verkündigt. Das war Jesu Mission: Sich um die Menschen zu kümmern, die wegen ihrer Sündhaftigkeit in der Gesellschaft als die Letzten gelten. Jesus nimmt sich gerade dieser Menschen an, in ihrer Gebrochenheit, ihrer Schuld, ihrer Verzweiflung. Er vermittelt ihnen, dass gerade sie von Gott geliebt und angenommen sind. Das ist die Hauptbotschaft des Evangeliums.

Auch bei seinem letzten Mahl tut Jesus das, was er immer getan hat. Er widmet gerade dem seine volle Aufmerksamkeit, der es eigentlich am wenigsten verdient haben sollte. Doch diese Kategorie gibt es bei Jesus nicht. Bei ihm geht nicht um Verdienst, sondern um Bedürftigkeit. Von allen Jüngern, die an seinem Tisch sitzen, ist Judas derjenige, der Liebe und Vergebung am meisten nötig hat. Die Gesunden brauchen den Arzt nicht. Die, bei denen alles in Ordnung ist, die bereits in Harmonie mit ihm und Gott leben, brauchen Jesu Zuwendung am wenigsten. Deshalb ist der Jünger, der an Jesu Brust liegt, schlafend. Jesus muss sich nicht um ihn kümmern. Die Beziehung zwischen ihnen ist harmonisch. Stattdessen reckt Jesus seine Hand über ihn hinweg zu Judas. Diese Geste hat etwas fast Zärtliches an sich. Er füttert Judas wie eine Mutter ihr Kind. In dieser liebevollen Geste kommt bereits die Vergebung zum Ausdruck, die Judas so dringend nötig hat. Denn Judas ist verstrickt in Schuld und Sünde. Er kann daraus nicht mehr heraus. Auch jetzt wird er nicht mehr anders können, als das zu tun, was er den Hohepriestern zugesagt hatte. Jesus hindert ihn nicht daran. Gerade weil er weiss, was Judas vorhat, wendet er sich ihm mit besonderer Intensität zu. Judas weiss wohl, dass er sich jetzt schuldig macht. Darum ist er als Bittender ganz besonders auf der Suche nach Gott. Er braucht Gottes Liebe und Vergebung jetzt am allermeisten.

Und auch Jesus ist auf der Suche, nämlich nach denen, die verloren sind. Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist, sagte er einmal. Und seine Suche hört auch in den letzten Stunden seines Lebens, ja selbst am Kreuz nicht auf. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ – mit diesen Worten bittet er Gott um Vergebung für seine Peiniger und für die, die ihn ans Kreuz brachten. Die gesamte Kreuzigungsszene ist vor allem ein Ausdruck von Liebe und Vergebung. So seltsam es klingt: Jesus hängt am Kreuz als ein Vergebender. Auch noch in den schlimmsten Qualen nimmt er die Menschen an, und zwar bedingungslos.

Im Kreuzesgeschehen zeigt sich der bedingungslos liebende Gott. In Jesus Christus hat Gott sich in Menschengestalt in diese Welt hineinbegeben und hat sich damit der Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit dieser Welt ausgeliefert. Er vermeidet es nicht, eines der schrecklichsten Schicksale eines Menschen zu erleiden. Und selbst jetzt bleibt Gott den Menschen zugewandt, bleibt ein vergebender, bedingungslos liebender Gott. Das ist das Paradox und gleichzeitig die Grossartigkeit des Kreuzesgeschehens.

Nicht nur Judas, auch die anderen Jünger machen sich in dieser Nacht schuldig. Drei Jünger schlafen ein, als sie für Jesus wachen sollten. Nach der Verhaftung laufen die Jünger verstört auseinander, anstatt Jesus beizustehen. Und Petrus, der versprochen hatte, für Jesus einzustehen, verleugnet ihn dreimal. Trotz ihrer Schuld und ihres Versagens werden diese Jünger später die ersten Apostel, welche die Kirche Christi aufbauen. Dies ist nur möglich durch Gottes Vergebung.

In der Passionsgeschichte zeigt sich die Unzulänglichkeit des Menschen und gleichzeitig die unbedingte, vorbehaltlose Liebe Gottes ohne Wenn und Aber.

Man muss also kein Judas sein, auch kein römischer Soldat, um Gottes Vergebung zu benötigen. Die bedingungslose und vergebende Liebe Gottes brauchen wir alle. Auch wenn wir wohl nicht solche Untaten begehen wie Judas, ein kleinbisschen Judas steckt wohl auch in jedem Menschen. Jeder Mensch ist grundsätzlich fähig zum Guten wie auch zum Bösen. Jeder Mensch hat seine dunklen Seiten, seine Schatten, die er selber nicht sehen will oder kann. Niemand von uns kann es vermeiden, in Sünde verstrickt zu sein. Manchmal können wir gar nicht anders, als uns schuldig zu machen, selbst wenn wir das Gute anstreben. Jeder Mensch ist mitunter angewiesen auf Gottes Vergebung. Und die gute Nachricht ist: Wir bekommen diese Vergebung, und zwar umsonst. Die bedingungslose Liebe Gottes gilt uns allen. Wir können und dürfen mit all unseren guten und schlechten Seiten immer wieder vor Gott treten. Gott sucht uns und wendet sich uns zu, gerade in den Momenten, in denen wir das eigentlich am wenigsten verdient hätten. Voraussetzung ist einzig, dass wir offen und empfänglich sind für Gottes Liebe, so wie es Judas im Bild zeigt mit seiner bittenden und empfangenden Geste. Wir dürfen uns von Gott angenommen wissen, wie wir sind, gerade auch mit unseren dunklen Seiten. Das erst ist die Voraussetzung, damit wir schliesslich auch fähig werden zum Guten.

Am Beispiel des Judas können wir erfahren, dass Gottes Liebe bedingungslos ist und uns allen gilt. Das ist die Botschaft, die das Kreuz Christi uns verkündigt bis heute.