Diese Predigt wurde am 2. April 2017 gehalten. Vorher hat im Gottesdienst ein junger Mann über sein Leben und Empfinden als Autist gesprochen.
Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteilbaren Organismus. So ist es auch mit Christus: mit der Gemeinde, die sein Leib ist. Denn wir alle, Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie, sind in der Taufe durch denselben Geist in den einen Leib, in Christus, eingegliedert und auch alle mit demselben Geist erfüllt worden.
Ein Körper besteht nicht aus einem einzigen Teil, sondern aus vielen Teilen. Wenn der Fuß erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin« – hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein? Oder wenn das Ohr erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht das Auge bin« – hört es damit auf, ein Teil des Körpers zu sein? Wie könnte ein Mensch hören, wenn er nur aus Augen bestünde? Wie könnte er riechen, wenn er nur aus Ohren bestünde?
Nun aber hat Gott im Körper viele Teile geschaffen und hat jedem Teil seinen Platz zugewiesen, so wie er es gewollt hat. Wenn alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib? Aber nun gibt es viele Teile, und alle gehören zu dem einen Leib.
Das Auge kann nicht zur Hand sagen: »Ich brauche dich nicht!« Und der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: »Ich brauche euch nicht!« Gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.
Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt und hat dafür gesorgt, dass die geringeren Teile besonders geehrt werden. Denn er wollte, dass es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert. Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.
Ihr alle seid zusammen der Leib von Christus, und als Einzelne seid ihr Teile an diesem Leib.
(1. Korinther 12, 12 – 22, 24a – 27)
Die christliche Gemeinde wird hier mit einem menschlichen Körper verglichen. Ein Körper besteht aus vielen Teilen. Jeder Teil des Körpers ist wichtig und erfüllt seine ganz besonderen Funktionen. Das Auge kann sehen, das Ohr kann hören, die Hand kann greifen, der Fuss kann laufen und so weiter.
Trotz ihrer Verschiedenheit gehören diese Teile doch alle zusammen. Kein Teil kann für sich isoliert existieren. Sie alle zusammen ergeben den lebendigen Organismus, aus dem der Mensch besteht.
Natürlich gibt es auch Menschen, denen etwas fehlt. Auch sie sind selbstverständlich ganze Menschen. Sie haben einfach gelernt, ihre Sinne und Organe anders einzusetzen. Ein Mensch, der keine Hände hat, macht einfach viele Verrichtungen mit den Füssen. Ein Mensch, der blind ist, hat ein feineres Gehör und einen besonders ausgeprägten Tastsinn, mit dem er z.B. lesen kann.
Autistische Menschen haben, wie wir gehört haben, eine andere Wahrnehmung, z.B. was menschliche Gesichter betrifft. Es fällt ihnen schwerer als anderen, aus einem Gesichtsausdruck den Gefühlszustand des Gegenübers abzulesen. Stattdessen haben sie oftmals ausgeprägtere Fähigkeiten auf anderen Gebieten, weil sie sich sehr akribisch auf ein ganz bestimmtes Thema konzentrieren können. Der Autist Daniel Tammet z.B. ist in der Lage, die Zahl Pi bis zu 22 000 Stellen hinter dem Komma auswendig aufzusagen. Andere können das Luftbild einer Stadt aus dem Gedächtnis aufzeichnen. Andere wiederum können sich an jeden Tag ihres Lebens bis ins letzte Detail genau erinnern. Solche Fähigkeiten nehmen das Hirn eines Menschen natürlich sehr in Anspruch, sodass für andere Tätigkeiten weniger Konzentration übrig ist.
Eigentlich trifft das ja auf jeden Menschen zu. Niemand ist in allen Bereichen gleich begabt. Es gibt Menschen, die können gut rechnen, dafür sind sie vielleicht weniger gut in Sprachen. Einige sind musikalisch, dafür z.B. weniger sportlich. Es gibt Menschen mit einem Flair für Theorie und Wissenschaft und es gibt Menschen mit grossen handwerklichen Begabungen. Und natürlich gibt es auch Multitalente, die viele Fähigkeiten gleichzeitig haben.
Was aber allen gemeinsam ist: Alle Menschen sind verschieden. Es gibt niemals zwei Menschen, die miteinander völlig identisch sind, auch nicht eineiige Zwillinge. Jeder Mensch hat seine eigenen Eigenschaften, Interessen, Begabungen und eben auch Schwächen. Und das ist gut so. Was wäre das für eine Welt, in der alle Menschen gleich wären, genau die gleichen Begabungen und auch die gleichen Defizite hätten? Unsere Welt wäre nicht so vielseitig, nicht so bunt und sicher auch nicht so fortschrittlich, wie sie es jetzt ist. Erst mit unseren Verschiedenartigkeiten bilden wir eine lebendige, vielseitige Gemeinschaft, in der wir miteinander leben und voneinander lernen können. Das kann eine Kirchgemeinde sein, eine Firma, eine Gesellschaft, aber auch auf die globale Gemeinschaft der Menschheitsfamilie kann das zutreffen.
Problematisch wird es erst dann, wenn wir anfangen, die verschiedenen Anlagen und Fähigkeiten zu werten. Wenn wir z.B. sagen: Sportlich sein ist besser als musikalisch sein. Rechnen können ist besser als sprachbegabt sein. Wissenschaft ist besser als Handwerk. Die übliche Art, Gesichter wahrzunehmen ist besser als die autistische Wahrnehmung.
Doch unsere Gesellschaft ist nicht ganz wertfrei, viele Vorgänge werden nach gewissen Normen bewertet. Wenn z.B. ein Autist uns beim Gespräch nicht in die Augen schaut, sind wir irritiert oder empfinden dies gar als unhöflich. Warum eigentlich? Weil wir es so gewohnt sind, weil es offiziell als anständig gilt, dass „man“ dies tut. Doch das Leben wäre für Autisten so viel einfacher, wenn es akzeptiert würde, dass es Menschen gibt, denen das schwer fällt, und dass dies nicht aus Unhöflichkeit geschieht. Es bräuchte einfach nur eine Anpassungsleistung unsererseits, anstatt zu erwarten, dass sich Autisten vollständig unserer Welt anpassen müssten.
Und das gilt nicht nur in Bezug auf Autisten. Es geht generell um Menschen, die irgendwie anders sind als die grosse Masse, die andere Fähigkeiten haben, anders ticken, vielleicht auch eine andere Herkunft haben oder mit anderen Voraussetzungen geboren wurden und die nicht so ganz in das Schema unserer Gesellschaft passen. Wir können doch eigentlich alle voneinander lernen, und so können z.B. Autisten unser Herz sein, dort, wo wir vor allem Kopf sind.
Unsere Gesellschaft sollte sich daran messen lassen, ob wir fähig sind, solche Menschen in unserer Mitte aufzunehmen, sie zu akzeptieren wie sie sind und ihnen einen Platz zu geben, an dem sie ihre Fähigkeiten einsetzen können. Die Frage ist, ob es uns gelingt, unsere Welt ein Stück weit so einzurichten, dass auch diese Menschen sich darin wohlfühlen können.
Wenn wir das schaffen, dann kann unsere Gesellschaft sein wie ein Puzzle, das aus verschiedenen Teilen besteht, aber nur als Ganzes ein richtiges Bild ergibt. Oder wie der menschliche Körper, der eben nicht nur aus Augen oder aus Händen besteht, sondern aus den vielfältigsten Teilen, die nur im Zusammenwirken den ganzen Menschen ergeben. Nur so können wir zu einer friedlichen, sozialen Gemeinschaft werden, in der alle Menschen gleichwertig in ihrer Würde geachtet werden und sich je nach ihren Anlagen und Eigenheiten einbringen können.
Das Bild vom menschlichen Körper erzählt uns, wie wir alle zusammengehören, wie wir im Zusammenwirken einen Leib bilden, der als Ganzes funktioniert, ohne dass alle genau gleich sein müssen. Ein Leib, in dem wir einander annehmen in den verschiedenen Spielarten des Menschseins und das Schwere wie das Schöne miteinander teilen, wie Paulus es so schön sagt: Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.
Wir alle gehören zusammen. Wir dürfen verschieden sein. Wir können uns ergänzen, voneinander lernen, einander unterstützen, miteinander leben und feiern. Auf diese Art können wir einander annehmen, so wie Christus uns angenommen hat.