Wesentlich werden

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Predigt am 25.12.19

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. (Lukas 2, 7)

Ein schlichter Satz im Lukasevangelium, und doch ein Satz, der wie kaum ein anderer in der Bibel eine grosse Wirkung in der Welt erzeugt hat. Dieser Satz ist wohl der Kernsatz der Weihnachtsgeschichte. Um ihn ranken sich ganze Legenden und Phantasien, wie das wohl gewesen sein muss in jener Nacht im Stall zu Bethlehem.
Die bildliche Darstellung dieses Satzes ergibt das Bild von der Krippe. Die Krippe ist ein fester Bestandteil des Weihnachtsfestes.
Bereits im Jahr 334 liess die römische Kaiserin Helena in Bethlehem über der Geburtshöhle eine Krippe aufbauen. Doch als eigentlichen Erfinder der Weihnachtskrippe gilt Franz von Assisi, der 1223 im italienischen Greccio eine Krippenfeier veranstaltete.
Ab dem 15. Jahrhundert wurden in ganz Italien immer mehr Krippen in Kirchen aufgestellt. Und im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Krippe auch ausserhalb Italiens populär.
Doch was heute als harmloses Kindervergnügen erscheint, war im Zuge der Aufklärung heftig umstritten. Um 1800 wurden in mehreren europäischen Staaten Krippenverbote erlassen. Das führte allerdings erst recht zu deren Verbreitung, weil sie nun vom öffentlichen in den privaten Raum abwanderten. Es entstanden Familienkrippen aus preiswertem Material, wie z.B. Ton oder Papier. Und sie begründeten eine Tradition, die auch weiterging, als nach 1825 alle Verbote wieder aufgehoben worden waren.
Die fantasievoll ausgestalteten Krippenlandschaften wurden zur Bühne für ein immer figurenreicheres Rollenspiel und gehörten damit zu den Vorläufern von Spielzeugeisenbahn, Lego- und Playmobil-Welten. Bis die Krippe schliesslich auch zur Schaufensterdekoration wurde, also zum Rahmenprogramm, das unsere Kauflust anregen soll.
Dabei ist immer mehr in Vergessenheit geraten, dass Krippen ursprünglich Andachtsbilder waren, die zur Vertiefung in das weihnachtliche Geheimnis einladen sollten.

Neulich besuchte ich eine Krippenausstellung. Ich staunte, was ich da alles zu sehen bekam: Krippen aus aller Welt, mit Figuren aus Holz, Terracotta, Ton, Glas, Karton, Stoff  und vielem mehr, angepasst an die jeweilige Kultur, aus der sie stammen. Teilweise ganz schlicht und klein: Maria, Josef, das Kind, allenfalls noch ein Dach darüber. Teilweise aber auch als riesige Dorfszenen: Menschen, die unterwegs sind, Händler, die ihre Ware anbieten, Frauen, die Wäsche waschen mit Kindern an den Rockschürzen, Handwerker in ihren Werkstätten, vollbesetzte Wirtshäuser, Hirten, die ihre Tiere durch die Strassen treiben … und irgendwo, in einer Nische, man sieht es kaum, Maria und Josef mit ihrem Kind. In all dem Strassentreiben scheint die Zeit plötzlich stillzustehen. Wie der Welt entrückt sind sie da und schienen den ganzen Betrieb um sie herum gar nicht wahrzunehmen. Sie scheinen wie aus der Welt und aus der Zeit gefallen zu sein. Und doch gehören sie dazu, zum Treiben dieser Welt und bringen eine ganz andere Dimension in sie hinein.

Doch häufig ist die Krippenszene auf ein Minimum reduziert: Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Dach über dem Kopf. (so wie auf dem Blatt)
Als ich mir die vielen verschiedenen Krippen so angeschaut habe, ist bei mir die Frage aufgetaucht: Was eigentlich ist es genau, was macht es aus, dass diese so schlichte Darstellung der Krippenszene auf die Menschen eine solche Faszination ausübt, über die Jahrhunderte hinweg?
Beim Betrachten der Krippen fand ich bereits eine Antwort darauf.

Eine Frau, ein Mann, ein Kind. Sie haben gerade ihr erstes Kind bekommen. Sind dadurch vom Paar zu einer Familie geworden. Ein neuer Mensch wurde ihnen geschenkt, und beide schauen fasziniert und dankbar auf dieses Wesen. Diese drei Menschen bilden eine Keimzelle des Menschseins.
Beim Betrachten dieser Szene bekommt man das Gefühl, als existierten in diesem Moment nur diese drei Menschen. Eine Aussenwelt gibt es nicht. Keine anderen Menschen, keine Häuser. Kein Lärm, keine Hektik, kein geschäftiges Treiben. Kein Kaiser Augustus, keine römischen Soldaten. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Nur dieser Moment zählt, nur diese drei Menschen sind hier, die soeben das Wunder des Lebens erfahren haben.
Und das, was diese Menschen haben, ist das Allerwenigste. Ein einfaches Dach über dem Kopf. Ein notdürftig hergerichtetes Bett für das Kind. Mehr nicht. Es spielt in diesem Moment keine Rolle, dass man nur in einem Stall ist und das Bett des Kindes gerade eben noch ein Futtertrog für die Tiere war. Sie haben genau das, was sie in diesem Moment zum Leben brauchen. Nicht mehr und nicht weniger. Es scheint ihnen zu genügen. Das Bild drückt keine Not aus, sondern gerade in dieser Schlichtheit eine tiefe Geborgenheit.
Hier ist alles auf das Allerwesentlichste beschränkt. Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein einfaches Dach darüber, ein Bettchen für das Kind. Die Dunkelheit, die die kleine Familie umgibt, wirkt nicht bedrohlich wie sonst, sondern birgt sie wie eine schützende Hülle. Über dieser Szene liegt eine Aura von Reinheit und Zartheit. Hier ist eine Oase der Stille und Sanftheit in der sonst so hektischen, manchmal auch gewaltvollen Welt.
In vielen Krippendarstellungen sind auch noch Tiere dabei, ein Ochse und ein Esel, wichtige Nutztiere der damaligen Zeit. Die kleine Familie befindet sich in enger Gemeinschaft mit ihren Mitgeschöpfen, welche Zeugen des Geschehens sind. Diese Tiere gehörten damals zum Leben der Menschen, man brauchte sie, um wirtschaften und sich fortbewegen zu können.
Später kommen noch die Hirten und die Schafe dazu. Einfache Menschen mit denen ihnen anvertrauten Tieren, die schauen wollen, welches Wunder sich hier ereignet hat und sich mitfreuen. Und über allem steht ein Stern. Das Transzendente, Himmlische, Göttliche bricht über diese so einfache Szene herein. Manchmal ist sogar noch ein Engel dabei, ein himmlischer Bote. Daran sehen wir: Es ist nicht ein normales Kind, das da geboren wurde. Es ist ein göttliches Kind, ein himmlisches Ereignis, das sich da vollzogen hat. Das Himmlische, Göttliche ist in das Irdische, Einfache und Schlichte hereingebrochen.

Was ist es nun also, das uns an diesem Bild so fasziniert? Es ist mehr als die blosse Darstellung irgendeiner Geschichte. Das Bild, so schlicht es auch sein mag, hat etwas Mystisches, tief Religiöses an sich, es strahlt eine Heiligkeit aus und weckt andächtige Gefühle. Und ich glaube, das ist nicht nur, weil wir es von Kindheit an gewohnt sind und mit dem Weihnachtsfest verbinden. Es lenkt unseren Blick vielmehr auf das, worauf es wirklich ankommt. Diese Situation, in ihrer Reduktion auf das Wesentliche in Stille und Geborgenheit, hat etwas urtümlich Menschliches an sich. Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Dach darüber, die Gemeinschaft mit den Mitgeschöpfen – mehr braucht es nicht. Und gerade in diese Schlichtheit bricht das Himmlische, Göttliche herein. Es bleibt nicht beim Menschlichen, Irdischen. Gott kommt dahin, wo wir am meisten Mensch sind. In die ganz einfachen, existenziellen Situationen unseres Alltages. Das Bild von der Krippe lenkt unseren Blick auf das, worauf es in Wirklichkeit ankommt, auf das Allerwesentlichste. In der Komplexität dieser Welt, im Lärm, in der Hektik und Geschäftigkeit der Welt kommt Gott hinein, kommt dorthin, wo es einfach, arm und still zugeht, dorthin, wo wir ihn am meisten brauchen. Gott kommt ins Wesentliche und hilft uns, selber wesentlich zu werden.
Und damit ist die Weihnachtsbotschaft auf wunderbare Weise auf den Punkt gebracht. Mehr brauchen wir nicht, um sie zu verstehen. Denn diese Botschaft kann wohl letztendlich nicht intellektuell mit dem Kopf verstanden werden. Sie trifft uns an dem Punkt, wo wir ganz Mensch sind. Und genau da lässt sie das Göttliche in unser Leben einfliessen.
Der Botschaft vom Kind in der Krippe werden wir am ehesten gerecht, wenn wir uns dem Krippenbild andächtig zuwenden wie in dem Lied von Paul Gerhardt:

Ich steh‘ an deiner Krippe hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring‘ und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel‘ und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohl gefallen.

Was ist der Mensch?

 

Predigt am 16.09.18

Gott, wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:  Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (Ps. 8, 4-5)

„Was ist der Mensch?“

Eine schwierige Frage. Man kann dieses Thema von verschiedenen Seiten her angehen. Wir können den Menschen betrachten aus biologischer Sicht: Wie ist der Körper des Menschen aufgebaut und wie funktioniert er? Oder psychologisch: Wie funktioniert die Seele des Menschen? Was geht in seinem Inneren vor? Oder evolutionsbiologisch: Der Mensch hat sich aus dem Affen entwickelt. Wie hat ihn das geprägt? Historisch: Man untersucht den Verlauf der Menschheitsgeschichte. Kulturhistorisch: Welche verschiedenen Kulturen gibt es, wie haben sich diese entwickelt? Soziologisch: Man untersucht das Verhalten der Menschen untereinander.

Das sind nur einige Beispiele, wie man sich der Frage: Was ist der Mensch? annäheren kann. Alle Zugänge haben ihre Richtigkeit, alle betrachten den Menschen aus einer bestimmten Perspektive heraus. Will man eine umfassende Antwort auf diese Frage finden, muss man möglichst alle Perspektiven auf den Menschen berücksichtigen. Uns interessiert heute in diesem Gottesdienst natürlich vor allem der biblische Zugang zu dieser Frage: Welche Antworten liefert die Bibel? Welches Menschenbild vertritt die jüdisch-christliche Tradition?

So werfen wir einmal einen Blick in die Bibel, und zwar dorthin, wo von den Anfängen, der Schöpfung des Menschen gesprochen wird. Es gibt ja zwei Schöpfungsberichte, die verschieden über die Erschaffung des Menschen erzählen. Im ersten Schöpfungsbericht hört sich das so an:

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei…Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. (Gen. 1, 27)

Im zweiten Schöpfungsbericht heisst es: Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. (Gen. 2,7)

Was sagen uns diese beiden Verse zur Frage: Was ist der Mensch?

Der zweite, ältere Schöpfungsbericht sieht das so: Der Mensch ist aus Erde gemacht, d.h. er ist ein Teil der Erde. „Du bist Erde und wirst zu Erde werden“, heisst es an späterer Stelle. Der Name Adam kommt vom Wort Adamah, und das heisst Erdboden.

Doch der Mensch ist nicht nur Materie, er ist mehr als das. Nachdem Gott den Menschen aus Erde geformt hat, bläst er ihm seinen Atem in die Nase. Erst so kann der Mensch ein lebendiges Wesen werden.

Im anderen Schöpfungsbericht wird das nicht so plastisch beschreiben, es heisst da nur: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, als Wesen, das ihm gleich ist.

Was bedeutet das nun für das Menschenbild? Erstens: Wir tragen Gottes Atem in uns; das, was uns lebendig macht, kommt direkt von Gott. Ein Teil von Gott ist ständig in uns und erhält uns am Leben. Zweitens: Wir sind Gottes Ebenbilder, wir sind Gott gleich.

Und diese Feststellung gilt für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Herkunft, Religion, Kultur, Fähigkeiten, moralischem Verhalten, Weltanschauung, Entwicklungsstand, Veranlagungen und Lebenssituation. Alle Menschen sind gleich, jeder Mensch, der auf dieser Erde lebt ist Gottes Ebenbild.

Von diesem Gedanken sind auch die Menschenrechte abgeleitet, die von dem Grundsatz ausgehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Begriff der Menschenwürde und die Gottebenbildlichkeit sind eigentlich das gleiche, einmal weltlich und einmal religiös ausgedrückt.

Bevor wir den Gedanken weiterspinnen, schauen wir doch auch noch ins Neue Testament.

Jesus hat den Gedanken eingeführt, dass Gott unser Vater ist. Das bedeutet nichts anderes als: Wir sind Gottes Kinder, Gottes Töchter und Söhne. Im 1. Johannesbrief heisst es:

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!

Wir sind also nicht nur Gottes Ebenbilder, wir sind seine Töchter und Söhne. Das bedeutet, dass wir Anteile von Gott in uns tragen. So wie ein Mensch die Gene seiner leiblichen Eltern in sich trägt, so haben wir Teile von Gott in uns. Man könnte auch sagen: Einen göttlichen Funken oder einen göttlichen Kern. Es bedeutet nichts anderes als: Gott ist in uns. Tief in uns drin sind wir Gott. Wir Menschen sind göttlich. Und zwar alle.

Das ist ein schöner, aber auch ein schwieriger Gedanke. Wenn ich mir manche Menschen so ansehe, fällt es mir schwer, zu akzeptieren, dass wirklich alle göttlich sein sollen. Ich denke z.B. an die Menschen, die gegen Flüchtlinge demonstrieren und dabei rufen: „Lasst sie ersaufen“. Oder auch nur, wenn ich Kommentare in den sozialen Medien lese, die andere Menschen aufs unflätigste weit unter der Gürtellinie angreifen und diffamieren.

Solches Verhalten ist ganz und gar nicht göttlich. Es ist auch nicht menschlich, sondern zutiefst unmenschlich. Es fällt uns schwer, sich vorzustellen, dass auch Menschen, die sich unmenschlich verhalten, einen göttlichen Kern in sich tragen sollen.

Dagegen ist es einfacher, schnelle Urteile zu fällen. „Das Monster“ ist eine oft gesehene Schlagzeile, wenn jemand ein besonders grausames Verbrachen begangen hat. Der Mörder von Rupperswil, der 4 Personen grausam umgebracht hat. Oder der Vater, der seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies gesperrt hat, sie immer wieder vergewaltigte und die daraus gezeugten Kinder ebenfalls im Verlies aufwachsen liess. Solche Taten sind grauenhafte Verbrechen, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Und doch müssen wir sagen: Auch diese Menschen sind keine Monster. Es sind Menschen wie du und ich. Menschen, die wie alle anderen auch einen göttlichen Teil in sich tragen, auch wenn wir Mühe haben, uns das vorzustellen. Und wenn wir das konsequent weiterdenken: Also auch ein Hitler, ein Stalin, ein Bin Ladin, Menschen die schreckliches Unheil angerichtet haben, sind und bleiben Menschen, auch wenn sie abgrundtief böse Taten begangen haben. Es ist schwer für uns, das zu akzeptieren. Viel einfacher ist es, jemanden als Monster abzutun, der nichts Menschliches und erst recht nichts Göttliches an sich hat. Wir trennen solche Menschen damit von uns ab und müssen uns nicht mehr damit auseinandersetzen, dass es Menschen gibt, die zu bösem fähig sind, ja, dass eigentlich jeder Mensch je nach Situation zum Bösen fähig ist. Wir können dann einfach behaupten, dass diese Taten mit uns schlicht nichts zu tun haben, denn die Täter waren ja keine Menschen.

Doch nicht jeder Mensch ist ein Schwerverbrecher. Grundsätzlich gilt es, zwischen dem Menschen an sich und seinem Verhalten zu unterscheiden. Wir können die Taten eines Menschen verurteilen, ohne jedoch seine Menschlichkeit, also auch Gottebenbildlichkeit anzuzweifeln. Denn Gottes Ebenbild zu sein bedeutet eben nicht automatisch, ein perfekter und moralisch untadeliger Mensch zu sein. Das wissen wir alle.

Denn der göttliche Kern ist nicht einfach offensichtlich. Er ist oftmals verschüttet und tief verborgen hinter einer dicken Schicht, die wir uns im alltäglichen Leben angeeignet haben, einer Kruste aus Gewohnheiten, Neid, Unsicherheit, Hochmut, Neurosen und Egozentrik. Doch der innerste göttliche Kern bleibt. Und wenn wir diesen in jedem Menschen zumindest vermuten, dann kann es uns vielleicht gelingen, den Anderen anzunehmen wie er/sie ist, auch mit den Fehlern, Schwächen und Unzulänglichkeiten, mit allen Unterschieden und dem, was uns voneinander trennt.

Und auch mich selber kann ich besser annehmen, wenn ich den göttlichen Kern in mir selber sehen kann. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – das bedeutet nichts anderes, als im Nächsten und in sich selber den göttlichen Anteil wahrzunehmen und zu würdigen.

Denn manchmal gibt es Momente, in denen das Göttliche durchschimmert, in denen wir etwas erahnen können vom Göttlichen im Anderen und in uns selber. Wenn Begegnungen und menschliches Miteinander gelingen, wenn wir menschlich aneinander handeln, wenn wir vergeben können, wenn Versöhnung möglich wird, wenn wir den Anderen trotz seines Andersseins oder seiner Schuld als Mensch sehen und behandeln können, wenn wir unsere eigene Göttlichkeit spüren und die unseres Gegenübers aufleuchten lassen können. Dann sind wir in der Liebe. Und die Liebe kommt von Gott; Gott selber ist die Liebe.

So schliesse ich mit den Worten aus dem 1. Johannesbrief: Gott ist die Liebe. Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.

 

Und führe uns nicht in Versuchung…

Predigt über Matthäus 6, 9-13, gehalten am 14.01.18

„Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ – Diesen Satz beten wir in jedem Gottesdienst, verbunden mit der gesamten Christenheit auf der ganzen Welt. Neuerdings wird dieser uralte Satz, formuliert vor fast 2000 Jahren, in den Medien diskutiert.

Der Papst höchstpersönlich hat das lanciert. Dieser Bibelvers sei falsch übersetzt, so behauptet er. Es dürfe nicht heissen: Führe uns nicht in Versuchung, sondern: Lasse uns nicht in Versuchung geraten. Nicht Gott sei es, der in Versuchung führe, sondern der Satan. Auf Geheiss des Papstes wurde in einigen Ländern und Sprachen die Formulierung im Unservater angepasst. In den deutschsprachigen Kirchen scheint dies nicht der Fall zu sein. Ich bin froh darüber, denn ich bin mit dem Papst ganz und gar nicht einverstanden.

Ich finde zwar vieles gut, was Papst Franziskus tut und sagt – er lebt sein Papst-Sein in einem ganz neuen, einem sozialen, menschlichen Stil, der viele Hoffnungen weckt. Doch für mich als Reformierte ist es ein Unding, dass ein einzelner Mensch Stellvertreter Christi auf Erden sein sollte. Deswegen werde ich auch einem fortschrittlichen Papst gegenüber immer kritisch bleiben.

Ausserdem ist die Übersetzung und Exegese der Bibeltexte ja ein Spezialgebiet der protestantischen Theologie. Bereits viele Theologen (und seit knapp 100 Jahren auch Theologinnen) haben sich über die richtigen Übersetzungen den Kopf zerbrochen. Vom griechischen Urtext her gibt es keinen Grund, den Wortlaut dieses Verses zu ändern. Noch mehr aber irritiert mich die sachliche Argumentation des Papstes. Gott tut so etwas nicht, sagt der Papst, Gott führt nicht Menschen mit Absicht in die Versuchung hinein. Der Satz entspricht also nicht seinem Gottesbild. Aber ist es legitim, einen Bibeltext und sogar ein uraltes Gebet zu ändern, nur weil man mit dem Inhalt nicht ganz einverstanden ist? So gesehen könnten wir vieles in der Bibel in Frage stellen. Viele Bibelstellen präsentieren ein Gottesbild, das finster oder gar grausam ist und mit anderen Bibelstellen im Widerspruch steht. Sollten wir sie alle ändern zugunsten eines freundlicheren Gottesbildes? Ändern wir in Zukunft die Bibeltexte nach Belieben oder setzten wir uns weiterhin mit ihnen kritisch auseinander, auch wenn sie für uns sperrig und anstössig sind? In Bezug auf das Unservater könnten wir ja noch mehr in Frage stellen, z.B.: Ist Gott wirklich unser Vater? Und ist er wirklich im Himmel? Das Unservater ist ein traditionelles Gebet, das in der ganzen Christenheit gebetet wird. Es soll auf Jesus selber zurückgehen. Ich bin der Meinung, wir können uns in diese Tradition hineinstellen, ohne jedes einzelne Wort in Frage zu stellen.

In der Diskussion um diesen Vers geht es um nichts anderes als um das Gottesbild. Wenn der Papst sagt: Es sei nicht Gott, sondern der Satan, der in Versuchung führt, dann ist damit nicht viel gewonnen. Gibt es den Satan überhaupt, oder ist das Böse nicht einfach eine Realität, mit der wir leben müssen? Und wenn es den Satan gibt, warum lässt Gott ihn walten? Hat Gott keine Allmacht? Es dünkt mich allzu bequem, das, was uns nicht gefällt, einfach dem Satan zuzuschieben.

Im Bibelvers ist es ausdrücklich Gott, der die Menschen in Versuchung führt. Und es ist nur eine Nuance, ob Gott die Menschen in die Versuchung hineinführt oder nur geraten lässt.

Die Frage, warum Gott Böses und Leiden zulässt, ist eine uralte Menschheitsfrage. Bei Unglücken fragen wir: Warum hat Gott das zugelassen, und nicht: Warum hat Gott das getan? Doch in beiden Fällen geht es um einen Gott, der die Macht hat, Böses zu verhindern, dies aber nicht tut. Vielleicht können wir dieses Problem nur lösen, indem wir uns Gott ganz anders vorstellen. Sicher nicht als einen Gott, der aktiv ins Geschehen eingreift, sondern vielleicht als den „ganz Anderen“. Das würde bedeuten, das Unverständliche in der Welt so stehen zu lassen und nicht mehr Gott anzulasten.

Doch wenden wir uns dem Begriff „Versuchung“ zu. Was ist das überhaupt: „Versuchung“? Wir kennen den Begriff ja vor allem aus der Werbung: „Die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“. Die Sahnetorte ist eine Versuchung, wenn man eigentlich abnehmen will. Man gerät in Versuchung, sich das neueste Smartphone zu kaufen, obwohl man es sich eigentlich nicht leisten kann. Die Werbung führt uns fast täglich in Versuchung, irgendetwas zu kaufen. Das ist ihre Aufgabe, damit unsere Wirtschaft floriert.

Doch diese Art der Versuchung hat Jesus wohl nicht gemeint, als er das Unservater formulierte. Die Tatsache, dass dieses Thema in diesem kurzen Gebet aufgeführt ist, besagt, dass es sich um eine zutiefst menschliche Erfahrung handeln muss. Es ist das Leben, das uns täglich in Versuchung führt, damals wie heute. Wenn wir einer Versuchung nachgeben, dann tun wir etwas, das wir eigentlich gar nicht tun wollen, weil es unseren Vorsätzen, unseren Werten widerspricht. Wenn wir also einer Versuchung ausgesetzt sind, dann sind wir im Dilemma zwischen einem momentanen Bedürfnis und einem grundsätzlichen Wert. (Ich will mich gesund ernähren, ich will nicht soviel Geld ausgeben, ich will treu sein, ich will mich ökologisch verhalten, ich will Regeln einhalten usw.) Im Moment der Versuchung sind wir im Zwiespalt zwischen Kopf und Bauch. Der Kopf, also die Vernunft mag hehre Prinzipien haben. Der Bauch, das Gefühl richtet sich nach den momentanen Bedürfnissen z.B. nach Genuss, Anerkennung oder Bequemlichkeit. Geben wir nun unseren innersten Regungen nach oder bleiben wir standhaft und halten uns an unsere Grundsätze? Es kann ein gutes Gefühl sein, einer Versuchung widerstanden zu haben: Ich kann meine innersten Bedürfnisse steuern und meinen Werten treu bleiben. Ich bin nicht willenloses Objekt meiner unbewussten Regungen, sondern kann reflektiert und moralisch handeln. Ich weiss was ich tue und kann auch mal auf etwas verzichten, wenn es sein muss.

Doch wir sollten uns auch nicht selber knechten. Es kann ja auch Spass machen, einer Versuchung nachzugeben. Vor allem dann, wenn es um Kleinigkeiten geht, dürfen wir uns wohl auch mal etwas gönnen. Und wenn es einfach nicht gelingen will, einen guten Vorsatz einzuhalten, dann müssen wir uns fragen, ob der Vorsatz denn wirklich der richtige ist. Kommt er wirklich von mir selber und entspricht meinem Wesen? Tut es mir wirklich gut, dreimal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen, oder ist das etwas, das meinen eigentlichen Bedürfnissen widerspricht? Beim inneren Kampf zwischen Kopf und Bauch dürfen wir uns also auch mal zugunsten des Bauchgefühls entscheiden. Wichtig ist, dass wir eine bewusste Entscheidung treffen. Denn eine Versuchung ist immer eine Entscheidungssituation. In jedem Fall geht es darum, eine Balance zu finden in den täglichen Herausforderungen unseres Lebens.

Zu Zeiten Jesu ging es um anderes als um Fitnessstudios und Sahnetorten. In der Bibel wird die Versuchung häufig auch als Prüfung bezeichnet. Es ging um Einhaltung von Gottes Geboten, um das Standhalten im Glauben, um den Mut zum Bekenntnis. Gerade für eine religiöse Minderheit und in Zeiten von Verfolgung waren dies wichtige Themen. Versuchung bedeutet: Hier entscheidet sich etwas. Es geht um Existenzielles. Bleibe ich meinen Grundsätzen treu? Weiss ich immer was ich tue? Bin ich bereit, auch in schwierigen Situationen für meine tiefsten Überzeugungen einzustehen? Kann Gott und können meine Mitmenschen auch dann auf mich zählen, wenn es hart auf hart kommt? Die Bibel erzählt uns von vielen solchen Situationen. Eine davon ist die Versuchung Jesu in der Wüste. Dass Jesus es geschafft hat, diesen Versuchungen zu widerstehen, hat ihn stark gemacht für seinen Auftrag und schlussendlich auch dafür, für seine Überzeugungen zu sterben.

Die Bitte im Unservater hat ja einen wichtigen Nachsatz: Sondern erlöse uns von dem Bösen. Mit Versuchung sind eigentlich Situationen gemeint, in denen man mit dem Bösen konfrontiert wird. Die Vermeidung des Bösen und die Bewahrung davor, in der Konfrontation mit dem Bösen zu scheitern, das ist das eigentliche Anliegen dieses Satzes.

Ich werde also auch in Zukunft den Satz so beten, wie er uns überliefert wurde. Ungeachtet der Frage, ob nun Gott der Urheber der Versuchungen ist oder nicht. In Respekt vor den Versuchungen des Lebens bete ich gerne: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.