Versöhnung

Predigt über 1. Mose 25 – 33, gehalten am 27.08.17

In der Bibel finden wir oftmals sehr menschliche Geschichten, die uns erzählen, wie die Menschen damals gelebt und was sie gefühlt haben; wir erfahren von ihren Problemen und Fragen, ihren Glücksmomenten und Schicksalsschlägen; wir lesen von Liebe und Hass, Streit und Versöhnung. Und obwohl diese Geschichten jahrtausendealt sind und in einer ganz anderen Kultur spielen, können die Schicksale dieser Menschen uns berühren. Vieles, was die biblischen Menschen erlebt haben, betrifft uns, weil es um zutiefst existenzielle Themen geht, die auch uns heute noch in gleichem Masse beschäftigen.

Ich möchte Ihnen heute die Geschichte von Jakob und Esau erzählen; es ist die Geschichte zweier ungleicher Brüder. Weil diese Geschichte in der Bibel sehr lang ist, kann ich sie hier nur gekürzt und zusammengefasst wiedergeben. Wer sie zuhause nachlesen möchte, was ich sehr empfehle, findet sie im 1. Buch Mose, in den Kapiteln 25-33.

Jakob und Esau sind die Söhne des Isaak und seiner Frau Rebekka. Obwohl sie Zwillinge sind, sind sie doch sehr verschieden. In der Bibel heisst es über sie:

Esau wurde ein Jäger, der am liebsten in der Steppe umherstreifte. Jakob wurde ein häuslicher, ruhiger Mensch, der bei den Zelten blieb.

Ihr Vater, der gerne Wild aß, hatte eine Vorliebe für Esau; Jakob aber war der Liebling der Mutter.

Weil Esau als erster den Mutterleib verlassen hat, ist er der Erstgeborene, mit allen Rechten: Er soll den Segen des Vaters bekommen und Haupterbe werden. Doch der gerissene Jakob schafft es, seinem Bruder dessen Rechte abzuluchsen: Als Esau einmal hungrig von der Jagd heim kommt, bietet Jakob ihn einen Linseneintopf an – gegen den Preis seines Erstgeburtsrechts. Esau, müde und hungrig, geht in einem unbedachten Moment darauf ein. So verliert er seine Rechte als Erstgeborener an Jakob.

Und als der Vater im Sterben liegt, gelingt es Jakob, sich trickreich den Segen des Vaters zu erschleichen. Mit Hilfe der Mutter gibt er sich dem blinden Vater als Esau aus und lässt sich vom Vater segnen. Der Segen beinhaltet Erfolg, fruchtbare Felder und die Herrschaft über seinen Bruder. Als der Betrug auffliegt, kann der Vater seinen Segen an Jakob nicht mehr rückgängig machen. Für Esau bleibt nur noch ein Ersatz-Segen.

Nun ist es für Esau zuviel des Guten. Er schwört auf Rache und droht, seinen Bruder zu töten. Jakob ergreift die Flucht. Bei seinem Onkel Laban, fern von der Heimat findet er Unterschlupf. Der erschlichene Segen des Vaters zeigt hier seine Wirkung: Alles, was Jakob anpackt, gelingt ihm. Die Arbeit im Auftrag seines Onkels trägt Früchte, die Herden Labans wachsen unter Jakobs Obhut rasch.

20 Jahre später ist Jakob ein reicher Mann mit einer grossen Familie. Er hat – wie damals üblich – zwei Frauen, einige Nebenfrauen, zahl­reiche Knechte und Mägde, 12 Söhne und einige Töchter, dazu grosse Her­den. Nun möchte er nicht mehr länger im Dienst seines Onkels stehen, son­dern sein eigener Herr sein. Darum macht er sich mit seiner gesamten Habe auf, in Richtung Heimat.

Es gibt nur eines, wovor er sich fürchtet: Die Rache sei­nes Bruders.

Während Jakob der Heimat entgegenzieht, bereitet er sich gut auf die Begegnung mit Esau vor. In der Bibel wird das so beschrieben:

Dann sandte Jakob Boten voraus zu seinem Bruder Esau.

Sie sollten Esau, seinem Herrn, ausrichten: »Dein ergebener Diener Jakob läßt dir sagen: ‚Ich bin die ganze Zeit über bei Laban gewesen und komme jetzt zurück.

Ich habe reichen Besitz erworben: Rinder, Esel, Schafe und Ziegen, Sklaven und Sklavinnen. Ich lasse es dir, meinem Herrn, melden und bitte, daß du mich freundlich aufnimmst.’«

Die Boten kamen zurück und berichteten Jakob: »Wir haben deinem Bruder Esau die Botschaft ausgerichtet. Er ist schon auf dem Weg zu dir; vierhundert Mann hat er bei sich.«

Als Jakob das hörte, erschrak er. Er verteilte seine Leute und das Vieh und die Kamele auf zwei Karawanen; denn er dachte: Wenn Esau auf die eine trifft und alles niedermetzelt, wird wenigstens die andere gerettet.

Dann stellt Jakob für seinen Bruder ein Geschenk zusammen, das vor ihm her ziehen soll: 200 Ziegen und 200 Schafe, dazu 20 Ziegenböcke und 20 Schafböcke, 30 Kamelstuten mit ihren Jungen, 40 Kühe, 10 Stiere, 20 Eselinnen und 10 Esel.

Den Hirten trägt er auf, Esau auszurichten: ‚Dein ergebener Diener Jakob kommt gleich hinter uns her.’« Er dachte nämlich: Ich will zurückbleiben und ihn erst mit meinen Geschenken günstig stimmen; vielleicht nimmt er mich dann freundlich auf.

Jakob selbst ging an der Spitze des Zuges und warf sich siebenmal auf die Erde, bis er zu seinem Bruder kam. Esau aber lief ihm entgegen, umarmte und küsste ihn. Beide weinten vor Freude.

Esau möchte das Geschenk, das Jakob ihm macht, zuerst nicht annehmen.

»Lieber Bruder«, sagte Esau, »ich habe selbst genug. Behalte es nur!« – »Nein, nein!« sagte Jakob. »Wenn du mir wieder gut bist, musst du mein Geschenk annehmen. Wie man vor Gott tritt, um Gnade zu finden, so bin ich vor dich getreten, und du hast mich freundlich angesehen. Darum nimm mein Geschenk an! Gott hat mir Glück gegeben, ich bin sehr reich geworden.« Jakob drängte seinen Bruder so lange, bis er alles annahm.

Bald trennen sich die Wege der Brüder wieder, aber sie ziehen weiter als Versöhnte.

Soweit die Geschichte dieser beiden Brüder. Schauen wir sie uns noch einmal an:

2 Brüder sind einander verfeindet. Das können wir wohl zu einem Teil auf ihre Verschiedenheiten zurückführen: Esau ist stark. Er benutzt seine Muskelkraft, um im Leben etwas zu erreichen, Jakob ist körperlich eher schwach, ein häuslicher Typ. Esau hat eine starke Beziehung zum Vater, während Jakob der Liebling der Mutter ist. Es herrscht also ein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Brüdern. Weil Jakob seinem Bruder physisch unterlegen ist, muss er eben mit Cleverness und Köpfchen, ja manchmal auch mit Tricks und nicht ganz sauberen Methoden schauen, dass er zu seinem Recht kommt. So gelingt es ihm, mit Unterstützung der Mutter, seinen Bruder zu überlisten und sich das anzueignen, was eigentlich Esau zukommen sollte.

Esau ist zu Recht wütend auf seinen Bruder. Hat doch der Segen des Vaters an den Bruder ihm all seiner Chancen beraubt. So schwört Esau, seinen Bruder zu töten.

20 Jahre später kommt es zur Konfrontation zwischen den beiden. Jakob weiss, dass er

als der physisch und militärisch Unterlegene gegen seinen Bruder keine Chance hat. Ihm bleibt nur noch die Möglichkeit, durch Unterwürfigkeit Esau gnädig zu stimmen.

Wir könnten vermuten, auch das sei eine List von Jakob. Aber vielleicht hat er in den vergangenen 20 Jahren auch gemerkt, was er seinem Bruder angetan hat. Möglicherweise ist er jetzt reif genug, um seine Untaten ehrlich zu bereuen.

Esau jedenfalls konnte bereits über seinen Schatten springen und seinem Bruder verzeihen.

Die Geschichte von Jakob und Esau ist eine Geschichte von Streit und Versöhnung. Sie ist eine zutiefst menschliche Geschichte, wie sie auch heute in ähnlicher Art immer wieder vorkommen kann.

Sowohl Jakob als auch Esau haben Grösse bewiesen: Jakob, weil er sich nicht scheut, die Überlegenheit Esaus anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. Esau, weil er die Grösse hat, auf Rache zu verzichten. Nach über 20 Jahren kann er offenbar sagen „Schwamm drüber“.

Beide erkennen nun im Anderen nicht mehr den Gegner, sondern den Bruder. Blut ist dicker als Wasser, und die Zeit hat die Wunden geheilt.

Was lernen wir aus dieser Geschichte?

Wenn Menschen verschieden sind und vor allem auch ungleich behandelt werden, führt das häufig zu Konkurrenz, Neid und Missgunst. Menschen werden durch solche Gefühle entzweit. Dies kann auch bewirken, dass die Unterlegenen unfaire Methoden anwenden, um zu ihrem Recht zu kommen. Dies führt zu Hass und Feindschaft.

Um Vergebung zu bitten und um vergeben zu können braucht es innere Grösse, Standfestigkeit, Mut und auch eine Portion Demut. Es bedeutet, nicht auf sein Recht, auf seinen Standpunkt zu beharren. Und es bedeutet auch: Verletzungen und Zorn über erlittenes Unrecht beiseite stellen zu können, über seinen eigenen Schatten zu springen und sich nicht ewig in das zu verbeissen, was man früher einmal erlitten hat. Denn auch wenn der Zorn verständliche Gründe hat, nimmt er uns etwas von unserer Menschlichkeit. In einem Gedicht von Berthold Brecht heisst es: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge, auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.

Wenn wir hingegen vergeben können, gewinnen wir dadurch wieder etwas von unserem menschlichen Angesicht zurück.

Vergebung ist ja auch ein theologisches Thema. Im Unservater beten wir: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Das heisst: Wenn wir bereit sind zur Vergebung, dann können auch wir selber erwarten, dass uns vergeben wird.

Und bei Gott ist es noch besser: Im Evangelium erfahren wir, dass Gott uns bereits im Voraus vergeben hat, bevor wir selber jemandem vergeben oder um Vergebung bitten können.

Gottes Liebe und Barmherzigkeit lassen uns zu Menschen werden, die frei sind, anderen vergeben zu können. So können wir zu einer echten Versöhnung kommen und einen Beitrag leisten zu einer friedlicheren Welt.