Wesentlich werden

Christmas-Nativity-Scene-by-iDrawSilhouettes

Predigt am 25.12.19

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. (Lukas 2, 7)

Ein schlichter Satz im Lukasevangelium, und doch ein Satz, der wie kaum ein anderer in der Bibel eine grosse Wirkung in der Welt erzeugt hat. Dieser Satz ist wohl der Kernsatz der Weihnachtsgeschichte. Um ihn ranken sich ganze Legenden und Phantasien, wie das wohl gewesen sein muss in jener Nacht im Stall zu Bethlehem.
Die bildliche Darstellung dieses Satzes ergibt das Bild von der Krippe. Die Krippe ist ein fester Bestandteil des Weihnachtsfestes.
Bereits im Jahr 334 liess die römische Kaiserin Helena in Bethlehem über der Geburtshöhle eine Krippe aufbauen. Doch als eigentlichen Erfinder der Weihnachtskrippe gilt Franz von Assisi, der 1223 im italienischen Greccio eine Krippenfeier veranstaltete.
Ab dem 15. Jahrhundert wurden in ganz Italien immer mehr Krippen in Kirchen aufgestellt. Und im 16. und 17. Jahrhundert wurde die Krippe auch ausserhalb Italiens populär.
Doch was heute als harmloses Kindervergnügen erscheint, war im Zuge der Aufklärung heftig umstritten. Um 1800 wurden in mehreren europäischen Staaten Krippenverbote erlassen. Das führte allerdings erst recht zu deren Verbreitung, weil sie nun vom öffentlichen in den privaten Raum abwanderten. Es entstanden Familienkrippen aus preiswertem Material, wie z.B. Ton oder Papier. Und sie begründeten eine Tradition, die auch weiterging, als nach 1825 alle Verbote wieder aufgehoben worden waren.
Die fantasievoll ausgestalteten Krippenlandschaften wurden zur Bühne für ein immer figurenreicheres Rollenspiel und gehörten damit zu den Vorläufern von Spielzeugeisenbahn, Lego- und Playmobil-Welten. Bis die Krippe schliesslich auch zur Schaufensterdekoration wurde, also zum Rahmenprogramm, das unsere Kauflust anregen soll.
Dabei ist immer mehr in Vergessenheit geraten, dass Krippen ursprünglich Andachtsbilder waren, die zur Vertiefung in das weihnachtliche Geheimnis einladen sollten.

Neulich besuchte ich eine Krippenausstellung. Ich staunte, was ich da alles zu sehen bekam: Krippen aus aller Welt, mit Figuren aus Holz, Terracotta, Ton, Glas, Karton, Stoff  und vielem mehr, angepasst an die jeweilige Kultur, aus der sie stammen. Teilweise ganz schlicht und klein: Maria, Josef, das Kind, allenfalls noch ein Dach darüber. Teilweise aber auch als riesige Dorfszenen: Menschen, die unterwegs sind, Händler, die ihre Ware anbieten, Frauen, die Wäsche waschen mit Kindern an den Rockschürzen, Handwerker in ihren Werkstätten, vollbesetzte Wirtshäuser, Hirten, die ihre Tiere durch die Strassen treiben … und irgendwo, in einer Nische, man sieht es kaum, Maria und Josef mit ihrem Kind. In all dem Strassentreiben scheint die Zeit plötzlich stillzustehen. Wie der Welt entrückt sind sie da und schienen den ganzen Betrieb um sie herum gar nicht wahrzunehmen. Sie scheinen wie aus der Welt und aus der Zeit gefallen zu sein. Und doch gehören sie dazu, zum Treiben dieser Welt und bringen eine ganz andere Dimension in sie hinein.

Doch häufig ist die Krippenszene auf ein Minimum reduziert: Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Dach über dem Kopf. (so wie auf dem Blatt)
Als ich mir die vielen verschiedenen Krippen so angeschaut habe, ist bei mir die Frage aufgetaucht: Was eigentlich ist es genau, was macht es aus, dass diese so schlichte Darstellung der Krippenszene auf die Menschen eine solche Faszination ausübt, über die Jahrhunderte hinweg?
Beim Betrachten der Krippen fand ich bereits eine Antwort darauf.

Eine Frau, ein Mann, ein Kind. Sie haben gerade ihr erstes Kind bekommen. Sind dadurch vom Paar zu einer Familie geworden. Ein neuer Mensch wurde ihnen geschenkt, und beide schauen fasziniert und dankbar auf dieses Wesen. Diese drei Menschen bilden eine Keimzelle des Menschseins.
Beim Betrachten dieser Szene bekommt man das Gefühl, als existierten in diesem Moment nur diese drei Menschen. Eine Aussenwelt gibt es nicht. Keine anderen Menschen, keine Häuser. Kein Lärm, keine Hektik, kein geschäftiges Treiben. Kein Kaiser Augustus, keine römischen Soldaten. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Nur dieser Moment zählt, nur diese drei Menschen sind hier, die soeben das Wunder des Lebens erfahren haben.
Und das, was diese Menschen haben, ist das Allerwenigste. Ein einfaches Dach über dem Kopf. Ein notdürftig hergerichtetes Bett für das Kind. Mehr nicht. Es spielt in diesem Moment keine Rolle, dass man nur in einem Stall ist und das Bett des Kindes gerade eben noch ein Futtertrog für die Tiere war. Sie haben genau das, was sie in diesem Moment zum Leben brauchen. Nicht mehr und nicht weniger. Es scheint ihnen zu genügen. Das Bild drückt keine Not aus, sondern gerade in dieser Schlichtheit eine tiefe Geborgenheit.
Hier ist alles auf das Allerwesentlichste beschränkt. Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein einfaches Dach darüber, ein Bettchen für das Kind. Die Dunkelheit, die die kleine Familie umgibt, wirkt nicht bedrohlich wie sonst, sondern birgt sie wie eine schützende Hülle. Über dieser Szene liegt eine Aura von Reinheit und Zartheit. Hier ist eine Oase der Stille und Sanftheit in der sonst so hektischen, manchmal auch gewaltvollen Welt.
In vielen Krippendarstellungen sind auch noch Tiere dabei, ein Ochse und ein Esel, wichtige Nutztiere der damaligen Zeit. Die kleine Familie befindet sich in enger Gemeinschaft mit ihren Mitgeschöpfen, welche Zeugen des Geschehens sind. Diese Tiere gehörten damals zum Leben der Menschen, man brauchte sie, um wirtschaften und sich fortbewegen zu können.
Später kommen noch die Hirten und die Schafe dazu. Einfache Menschen mit denen ihnen anvertrauten Tieren, die schauen wollen, welches Wunder sich hier ereignet hat und sich mitfreuen. Und über allem steht ein Stern. Das Transzendente, Himmlische, Göttliche bricht über diese so einfache Szene herein. Manchmal ist sogar noch ein Engel dabei, ein himmlischer Bote. Daran sehen wir: Es ist nicht ein normales Kind, das da geboren wurde. Es ist ein göttliches Kind, ein himmlisches Ereignis, das sich da vollzogen hat. Das Himmlische, Göttliche ist in das Irdische, Einfache und Schlichte hereingebrochen.

Was ist es nun also, das uns an diesem Bild so fasziniert? Es ist mehr als die blosse Darstellung irgendeiner Geschichte. Das Bild, so schlicht es auch sein mag, hat etwas Mystisches, tief Religiöses an sich, es strahlt eine Heiligkeit aus und weckt andächtige Gefühle. Und ich glaube, das ist nicht nur, weil wir es von Kindheit an gewohnt sind und mit dem Weihnachtsfest verbinden. Es lenkt unseren Blick vielmehr auf das, worauf es wirklich ankommt. Diese Situation, in ihrer Reduktion auf das Wesentliche in Stille und Geborgenheit, hat etwas urtümlich Menschliches an sich. Eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Dach darüber, die Gemeinschaft mit den Mitgeschöpfen – mehr braucht es nicht. Und gerade in diese Schlichtheit bricht das Himmlische, Göttliche herein. Es bleibt nicht beim Menschlichen, Irdischen. Gott kommt dahin, wo wir am meisten Mensch sind. In die ganz einfachen, existenziellen Situationen unseres Alltages. Das Bild von der Krippe lenkt unseren Blick auf das, worauf es in Wirklichkeit ankommt, auf das Allerwesentlichste. In der Komplexität dieser Welt, im Lärm, in der Hektik und Geschäftigkeit der Welt kommt Gott hinein, kommt dorthin, wo es einfach, arm und still zugeht, dorthin, wo wir ihn am meisten brauchen. Gott kommt ins Wesentliche und hilft uns, selber wesentlich zu werden.
Und damit ist die Weihnachtsbotschaft auf wunderbare Weise auf den Punkt gebracht. Mehr brauchen wir nicht, um sie zu verstehen. Denn diese Botschaft kann wohl letztendlich nicht intellektuell mit dem Kopf verstanden werden. Sie trifft uns an dem Punkt, wo wir ganz Mensch sind. Und genau da lässt sie das Göttliche in unser Leben einfliessen.
Der Botschaft vom Kind in der Krippe werden wir am ehesten gerecht, wenn wir uns dem Krippenbild andächtig zuwenden wie in dem Lied von Paul Gerhardt:

Ich steh‘ an deiner Krippe hier,
o Jesu, du mein Leben;
ich komme, bring‘ und schenke dir,
was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel‘ und Mut, nimm alles hin
und laß dir’s wohl gefallen.

Krippenspiel

Ansprache bei der Weihnachtsfeier im Altersheim am 21.12.17

Eine Jugendgruppe möchte ein Krippenspiel einstudieren. Die Rollen sind verteilt, Textbuch gibt es keines, es wird spontan gespielt, die Geschichte ist ja allen bekannt. Nun steht die erste Probe an.

Der Bote des Kaisers Augustus erteilt in strengem Ton den Auftrag zur Volkszählung, Maria und Josef ziehen nach Bethlehem, der Wirt weist das Paar ab, seine Herberge sei voll.

Doch mitten im Spiel bricht Peter, der den Wirt spielt ab. „Also eigentlich will ich keinen hartherzigen Wirt spielen, der den armen Leuten die Tür zuknallt. Wenn eine hochschwangere Frau mit ihrem Mann kommt, muss man sie doch hereinlassen. Also ich spiele das jetzt anders. – Kommt nur herein, liebe Leute, ich sehe, die Dame ist in Erwartung und die Nacht ist kalt. Meine Herberge ist zwar voll besetzt, aber ich gebe euch mein Schlafzimmer, ich selber kann ja im Stall übernachten.“ – Da sagt Rolf: „Also in dem Fall möchte ich auch nicht den Boten eines despotischen Kaisers spielen. Ich möchte auch nett zu den Leuten sein. Also: Liebes Volk! Der Kaiser möchte gerne wissen, wie gross sein Volk ist. Darum möchte er euch freundlichst bitten, wenn es euch beliebt, dass jeder in seinen Heimatort gehen soll, um sich dort zählen zu lassen. Kost und Logie sowie die Reisespesen werden selbstverständlich erstattet. Und Familien mit schwangeren Frauen sind natürlich davon ausgenommen. Sie können zuhause bleiben und sich per Internet registrieren lassen.“ „Das gabs doch damals noch gar nicht!“, ruft Heidi dazwischen. – „Ist doch egal, Hauptsache, die heilige Familie hat keine Umstände.“

Da meldet sich Hans, der einen Soldaten des Herodes spielen soll: „ Also dann will ich auch nicht ein Soldat sein, der dem Jesuskind nach dem Leben trachtet. Ich sage einfach: Herodes ist ein gütiger König, der das Jesuskind tatsächlich anbeten will.“ – „Wir spielen eine schönere Weihnachtsgeschichte als die, die in der Bibel steht.“, sagt Heidi. „Allen geht es gut, alle sind nett zueinander, Maria muss nicht hochschwanger nach Bethlehem ziehen und auch nicht in einem Stall gebären, die Hirten müssen sich nicht fürchten, die Soldaten begehen keinen Kindermord, es ist nicht kalt, es ist nicht dunkle Nacht, niemand ist arm. Schliesslich geht es ja um das Jesuskind und um das Volk Gottes. Da wollen wir uns nicht lumpen lassen.“

„Moment!“ ruft da Gaby, die den obersten Engel der himmlischen Heerscharen spielt. „Wenn Maria und Josef nicht nach Bethlehem müssen, wenn Jesus nicht in einem Stall geboren wird, wenn die Hirten nicht arm sind, wenn es keinen despotischen Kaiser Augustus und keinen blutrünstigen Herodes gibt, dann ist die Welt ja bereits perfekt, und dann muss ich ja auch nicht mehr kommen und „Friede auf Erden“ verkündigen. Und die Hirten müssen nicht das Jesuskind suchen gehen, denn sie haben gar keine Sehnsucht nach Frieden und Erlösung. In eine Welt, in der Friede, Freude und Eierkuchen herrschen, muss auch Gott nicht seinen Sohn schicken, um die Welt zu erlösen. Dann ist ja bereits alles in Butter. Dann können wir das Krippenspiel auch gleich ganz bleiben lassen.“

Nun werden alle nachdenklich. „Vielleicht hat es einen guten Grund, warum die Weihnachtsgeschichte genau so erzählt wird, wie wir sie kennen“, sagt Heidi. „Die perfekte Welt, wie wir sie gerne hätten, gibt es nun mal nicht. Es gibt Leid, Gewalt und Armut in der Welt. Es gibt Arme, Obdachlose und Flüchtlinge, einsame und verzweifelte Menschen. Auch heute noch. Und gerade darum ist Jesus in die Welt gekommen. In eine perfekte, paradiesische Welt hätte er nicht kommen müssen. Da hätte es auch nichts zu erlösen gegeben.

„Wartet mal“, sagt Rolf, „Wie steht es im Johannesevangelium? Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen. Genau, es heisst ja auch, Jesus ist das Licht der Welt. Und wo kann man Licht sehen? Klar, nur im Dunkeln. Und beim Propheten Jesaja heisst es: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. In einer Welt, die schon hell ist, braucht es kein Licht, um sie zu erleuchten. Jesus ist in die Welt gekommen, damit wir auch heute noch ein Licht haben, das uns leuchtet, auch wenn es um uns herum manchmal dunkel sein sollte.“

„Genau“, sagt Gaby, „und darum ist es auch wichtig, die Weihnachtsgeschichte so zu spielen, wie sie in der Bibel steht. Jesus ist in unsere Welt gekommen, so wie sie eben ist: in eine dunkle, ungerechte Welt, in der vieles nicht perfekt ist. Nur so konnte seine Botschaft von Frieden und Erlösung wirklich deutlich werden. Nur so konnten die Leute empfänglich werden für Christus und seine Friedensbotschaft.“

„Und das gilt auch für uns“, sagt Hans. „Auch unsere Welt ist noch lange nicht perfekt, auch wenn es uns jetzt besser geht als den Leuten damals. Auch wir sollten seine Botschaft ernst nehmen. Und die wird nur deutlich, wenn wir nichts beschönigen. Also Leute, spielen wir die Weihnachtsgeschichte noch einmal richtig, so wie sie ist.“

Und so spielen sie ihr Krippenspiel: Mit einem despotischen Kaiser Augustus, einer unerbittlichen Volkszählung, einem Wirt, der Maria und Josef die Tür weist, mit armen, verängstigten Hirten in einer dunklen kalten Nacht und einem Engel, der die Botschaft von Frieden und Erlösung in diese unerlöste Welt hineinspricht. Und mit einem grossen, strahlenden Licht, das von der Krippe ausgeht und die ganze Szenerie hell erleuchtet.

Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen.