Von Splittern und Balken

Predigt am 21.01.17/29.01.17

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.

Was sieht du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken in deinem Auge aber nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen, und dabei ist in deinem Auge der Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge. Dann wirst du klar sehen um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. (Mt. 7, 1 – 5)

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Harte Worte sind das, die Jesus da sagt. Hier ist nichts von Einladung, von Liebe oder Vergebung zu hören. Im Gegenteil, es handelt sich hier um eine Ermahnung.

Ein mahnender Jesus, passt das ins Bild? Hätten wir nicht lieber einen sanften und liebevollen Jesus, wie er so häufig verkündigt wird?

Ich behaupte: Das ist kein Widerspruch! Jesus war nicht immer nur sanft und lieb. Er konnte auch Klartext reden, Missstände beim Namen nennen. Das gehörte zu Jesu Verkündigung, zu seiner Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen, zu seiner Vision vom Reich Gottes.

Jesus konfrontiert uns in dieser Rede mit uns selber und will uns auf einen Weg führen, mit unseren Mitmenschen und mit unserem eigenen Ich anders umzugehen. Das dient seinem Ziel, die Welt dem Reich Gottes ein Stück näher zu bringen.

Es ist wichtig, diese Worte in ihrem Zusammenhang zu sehen. Dieser Text ist ein Teil der Bergpredigt, an dessen Anfang die Seligpreisungen stehen, die ich zu Beginn dieses Gottesdienstes gelesen habe. Die Seligpreisungen sind ein Zuspruch, also wie eine Art Balsam auf die Seele. Danach kommen verschiedene Ausführungen zu einem gottgefälligen Leben: Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, seinem Mitmenschen nicht fluchen, nicht schwören, nicht vergelten, seine Feinde lieben, seine Frömmigkeit nicht zur Schau stellen, sich nicht sorgen und wie gesagt: nicht richten.

Der Zuspruch der Bergpredigt beinhaltet auch einen Anspruch an die Menschen. Sie sollen mit ihrem Verhalten sich des Zuspruches würdig erweisen. Wichtig ist: Das Verhalten ist keine Bedingung, sondern eine Folge davon, dass man Gottes Liebe erfahren hat. Der Mensch, der sich von Gott angesprochen und geliebt weiss, kann sich in seinem Lebenswandel dementsprechend verhalten. Zuerst kommt also der Zuspruch, danach erst der Anspruch an das Verhalten.

Es ist kein geringer Anspruch, den Jesus da an seine Hörer stellt  – und damit auch an uns.

Schauen wir einmal genauer hin, was Jesus da in seiner Rede fordert: Richtet nicht! Er meint hier nicht das Richten von professionellen Richtern, sondern das Urteilen eines jeden Menschen über seine Mitmenschen. Und das ist etwas, das tagtäglich geschieht. Z.B. beim üblichen Klatsch und Tratsch werden nicht nur Gerüchte in Umlauf gebracht, sondern es wird gerichtet, Urteile werden gefällt über gutes und böses, richtiges und falsches Verhalten der Anderen. Es bedeutet, zu werten, die Menschen zu bewerten, nicht nur aufgrund ihres Tuns, sondern oftmals auch aufgrund ihrer Lebensweise, Äusserlichkeiten, Nationalität, Alter usw. Man sucht gerne nach dem Haar in der Suppe beim Anderen, hofft mit Schadenfreude, dass bei ihm Fehler und Schwächen zutage treten. Und weil wir es ja besser wissen, können wir uns über die Fehlbaren erheben und uns ihnen überlegen fühlen. (Ich sage jetzt bewusst „Wir“, denn ich denke, kein Mensch ist vor einer solchen Haltung ganz gefeit).Wenn ich mit dem Finger auf die Fehler anderer zeigen kann, muss ich mich nicht mit meinen eigenen Fehlern auseinandersetzen. Darum ist das Klatschen und Tratschen, das Gerüchte streuen, das Urteilen und das Richten so eine beliebte Tätigkeit. Rufmordkampagnen, das an den Pranger stellen einzelner oder auch Mobbing können einen Menschen ruinieren. Aber auch das alltägliche Werten im kleinen Kreis gehört dazu.

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus!  Wer über andere urteilt, lässt sich ein auf das grosse Spiel, den Kreislauf von Klatsch und Tratsch, von Besserwisserei und des sich über andere Erhebens. Wer über andere richtet, verhält sich  respektlos und anmassend und begegnet dem Nächsten nicht auf Augenhöhe. Er selber stellt sich als besser hin. Kein Wunder, dass da zurückgegeben wird, dass man sich dann auch selber dem Beurteilt-Werden aussetzt. Wer über andere richtet, muss damit rechnen, dass die gleichen Massstäbe an ihn selber angelegt werden. Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden, sagt Jesus. Der Bibeltext geht davon aus, dass kein Mensch besser ist als der andere und dass niemand das Recht hat, sich über einen anderen zu erheben. Er weiss, dass alle Menschen irgendwie in Schuld verstrickt sind. Er rechnet damit, dass das Böse, das ein Mensch aussendet, schlussendlich zu ihm zurückkehrt.

Die Rede vom Splitter und vom Balken im Auge ist ein Bild, das mit der Übertreibung spielt. Natürlich kann kein Mensch einen Balken im Auge haben. Aber es ist sicher kein Zufall, dass es hier um das Auge geht. Wer über andere urteilt, mag im Anderen etwas entdeckt haben. Doch gleichzeitig ist er blind gegenüber seinen eigenen Fehlern. Sein Blick ist verstellt. Und das Schlimme daran ist: Er merkt es nicht einmal. Er hat nur einen Blick für die Fehler des Anderen. Psychologisch ausgedrückt können wir sagen: Ein solcher Mensch hat eine eingeschränkte Selbstwahrnehmung.

Denn jeder Mensch hat eine verborgene Seite an sich, einen sogenannten Schatten. Das ist die Seite an uns, die wir nicht so gerne anschauen und auch anderen Menschen nicht zeigen wollen, weil sie nicht unserem eigenen Selbstbild entspricht, weil sie unsere Fehler und Schwächen beinhaltet, also etwas, das wir an uns selber ablehnen. Es ist eine Seite, die wir am liebsten verstecken oder leugnen, auch vor uns selber.

Wer seinen Schatten verdrängt, neigt dazu, seine eigenen Fehler zu verneinen und auf die anderen zu projizieren. Um mit Jesus zu sprechen: Den Balken im eigenen Auge sehen wir nicht, sondern nur im Form eines Splitters im Auge des Anderen, den wir dann scharf verurteilen, denn es ist ja anscheinend nicht unser eigener Splitter. Wir können uns von ihm abgrenzen, indem wir mit dem Finger auf andere zeigen, indem wir anderen die Schuld geben für sämtliche Missstände in der Welt.

Es  geht also darum, den Balken in unserem eigenen Auge zu erkennen, uns damit auseinanderzusetzen, bevor wir uns um den vermeintlichen Splitter im Auge des anderen kümmern können. Oftmals wird dieser dann bedeutungslos.

Und jetzt kommt etwas ganz Wichtiges: Wenn wir uns mit unserem eigenen Balken auseinandersetzen, also mit unserem Schatten, der unsere Fehler und Schwächen, vielleicht auch unsere bösen Seiten beinhaltet, dann sollten wir ihn nicht bekämpfen, nicht ausmerzen wollen. Wir sollten ihn erst einmal genau anschauen und dann liebevoll annehmen! Ja, auch wenn es seltsam klingt: diesem Teil von uns sollen wir mit genau so viel Liebe begegnen wie Jesus den Sündern begegnet ist. Er hat ihre Sünde nicht gutgeheissen, aber er hat sie in Liebe angenommen. Und genau das sollten wir auch mit unserem Schatten machen, denn er ist ein Teil von uns. Wir sollten uns selber nicht ablehnen, auch nicht Teile von uns. Wenn wir unseren Schatten liebevoll annehmen können, dann wird er für uns sichtbar, und dann kann er sich auch verwandeln. Wenn wir unsere abgelehnten Seiten akzeptieren, können wir den Balken aus unserem Auge entfernen. Und erst dann sehen wir klar und können uns um die Schatten der Anderen kümmern. Wenn wir unseren eigenen Fehlern mit Barmherzigkeit, Geduld und Toleranz begegnen, dann können wir auch barmherzig, geduldig und tolerant mit den Fehlern anderer umgehen. Das Herausziehen des Splitters aus dem Auge des Anderen ist dann nicht als Zurechtweisung zu verstehen, sondern vielmehr als Hilfe. Aus der Erfahrung heraus, dass auch wir unsere Schattenseiten haben, können wir den Anderen helfen, auch ihre Schattenseiten anzunehmen. Das ist etwas ganz anderes, als über sie zu richten und zu urteilen.

Mit der Aufforderung „Richtet nicht!“ wollte Jesus nicht einfach einer Laxheit und einer falschen Toleranz Vorschub leisten. Ihm schwebte vielmehr eine vorurteilsfreie Gemeinschaft vor, in der alle Menschen so angenommen werden wie sie sind, mit all den Seiten, die zu ihnen gehören, ohne Verdrängung, Heuchelei oder Überheblichkeit. Jesus wollte Menschen, die zu sich selber stehen können auch mit all ihren Unzulänglichkeiten. Wenn wir versuchen, diesen Weg einzuschlagen im Umgang mit uns selber und mit den Anderen, dann sind wir dem Reich Gottes ein Stück näher gekommen.